GASTBEITRAG

Chinas zweite große Industrierevolution

Börsen-Zeitung, 31.7.2018 Bis 2011 war Chinas Wachstumsmodell größtenteils von klassischen Anlageinvestitionen, unter anderem im Rohstoff-, Industrie-, Immobilien- und Energiesektor, geprägt. Dieses Modell stellte sich als sehr kapitalintensiv...

Chinas zweite große Industrierevolution

Bis 2011 war Chinas Wachstumsmodell größtenteils von klassischen Anlageinvestitionen, unter anderem im Rohstoff-, Industrie-, Immobilien- und Energiesektor, geprägt. Dieses Modell stellte sich als sehr kapitalintensiv heraus und schlug sich auf die Bankenbilanzen nieder. Die chinesische Regierung hat jedoch erkannt, dass eine Fortsetzung dieser Strategie nicht möglich ist.Seit 2011 verlagert sie daher den Schwerpunkt schrittweise auf den Privatkonsum, das Gesundheitswesen und die Informationstechnologie. Parallel dazu wurden die klassischen Wirtschaftszweige und das zugrunde liegende Finanzierungssystem grundlegend reformiert. Unter Präsident Xi Jinping verfolgt die chinesische Regierung eine reformorientierte Politik mit dem Hauptziel einer Neuausrichtung der Wirtschaft, weg von billiger Massenware hin zu mehr Qualität.Die Regierung meint es ernst mit den angebotsseitigen Reformen und hat durch Konsolidierungs- und Kostensenkungsmaßnahmen sowie durch administrative Reformen die Umsätze ihrer Staatsunternehmen gesteigert. Die Bereiche Bankwesen, Immobilien, Rohstoffe, Schwerindustrie und Versorgung konnten sich erholen. Doch die Investitionsausgaben haben sich seit Jahren nicht erhöht. Dies hat eine Verbesserung des Verhältnisses von freiem Cash-flow zu Aktienbesitz und eine Reduzierung der Verschuldungsquote zur Folge. Reformen zeigen WirkungChinas angebotsseitige Reformen und Umstrukturierungen veranlassen chinesische Unternehmen zu höheren Dividendenzahlungen. So schüttete das Kohle-, Transport- und Energieunternehmen Shenhua, das weltweit zu den Unternehmen mit den niedrigsten Produktionskosten zählt, im März 2017 eine Sonderdividende in Höhe von 20 % der damaligen Marktkapitalisierung aus.Die positiven Auswirkungen der angebotsseitigen Reformen zeigen sich nun seit zwei Jahren. Durch Fortschritte bei der Reduzierung von Überproduktion, Lagerbeständen, Verschuldung und Kosten hat China das Fundament für weitere Reformen gelegt.Der relativ unterentwickelte Dienstleistungssektor (fragmentiert unter anderem in die Bereiche Einzelhandel, Gastgewerbe und Großhandel) und die überholte staatliche Bankenbranche des Landes (Übertragung der Einlagen von Privatkunden auf Staatsunternehmen) erweisen sich überraschenderweise als Vorteil für China. Eine digitale Transformation dieser Sektoren ist damit wahrscheinlich. Das Verbot ausländischen Eigentums und die Wettbewerbsbeschränkungen in der chinesischen Internetbranche ermöglichten es den großen Internetunternehmen des Landes, rasant zu wachsen, enorme Skaleneffekte zur erzielen und komplexe Ökosysteme aufzubauen. Die sogenannten “BAT”-Unternehmen Baidu, Alibaba und Tencent – die chinesischen Äquivalente zu Google, Amazon und Facebook – haben diese Chance für sich genutzt. Der Erfolg der drei Internetriesen hatte eine Innovationsflut zur Folge, die von der chinesischen Regierung maßgeblich unterstützt und finanziert wurde.In den vergangenen zehn Jahren ist Chinas Digitalwirtschaft rasant gewachsen. Die Marktdurchdringung mit internetbasierten Mobilgeräten liegt bei 95 %, und der Anteil der mobilen Zahlungen ist in die Höhe geschnellt. Dieses Wachstumsmodell ist vollkommen neu. Daher haben Analysten die wirtschaftlichen Folgen, insbesondere in den Bereichen Konsum und allgemeine Produktivität, lange stark unterschätzt. Die gut ausgebaute digitale Infrastruktur wird die Entwicklung der Digitalwirtschaft weiter beschleunigen, so dass sie in 20 Jahren der wichtigste Wirtschaftszweig des Landes sein wird.China steht aufgrund seiner einzigartigen demografischen und wirtschaftlichen Entwicklung der vergangenen 35 Jahre vor gewaltigen gesundheitspolitischen Herausforderungen. Das Land sucht nun nach technologischen Lösungen für das Problem einer großen und weiter wachsenden Bevölkerung, die an chronischen Wohlstandskrankheiten leidet, welche, genau wie im Westen, durch Umweltverschmutzung, Ernährung und einen ungesunden Lebensstil verursacht werden. Dazu gehört eine stark wachsende Anzahl an Krebs-, Diabetes- und Asthmaerkrankungen sowie Fettleibigkeit.Ken Roth von McKinsey Company erwähnt in seinem Buch “Why China’s Next Big Innovation could be Healthcare” die Einführung von “Doctor Baidu” durch die Suchmaschine Baidu. Dabei werden Patienten unterstützt, den richtigen Arzt zu finden und einen Termin zu vereinbaren.Ein weiteres interessantes Gebiet ist die E-Mobilität. Das chinesische Internetunternehmen Bitauto bietet Lösungen für den chinesischen Automobilmarkt an. Das Unternehmen hat darauf hingewiesen, dass der CEO von Bitauto auch an einem Elektroauto-Start-up namens Nio beteiligt war. Die Beteiligung belief sich auf beträchtliche 1,2 Mrd. Dollar. Der Nio EP9 stellte im Mai 2017 einen Geschwindigkeitsrekord für ein Elektroauto auf dem Nürburgring auf. Vorteile eines ZentralstaatsAber das Unternehmen Nio ist nicht einzigartig. Bis zu 200 chinesische Unternehmen planen die Produktion von Elektrofahrzeugen. Die Zahl der Zulassungen von rein batteriebetriebenen Elektrofahrzeugen in China belief sich im Jahr 2016 auf 257 000 – das ist dreimal so viel wie in den USA. Da werden die Vorteile eines starken Zentralstaates sichtbar, da die chinesische Regierung den Ausbau der benötigten Infrastruktur vorantreibt. Das Land verfolgt ehrgeizige Pläne für den schnellen Ausbau der Ladeinfrastruktur für Elektroautos.Laut Joe Gemma, Präsident des Branchenverbandes International Federation of Robotics, ist “China der mit Abstand größte Robotermarkt der Welt, was den Jahresumsatz und den operativen Bestand betrifft. Es ist der am schnellsten wachsende Markt weltweit. Noch nie konnte ein Markt in so kurzer Zeit ein derartig dynamisches Wachstum verzeichnen.” Der chinesische Roboterabsatz verzeichnete 2016 ein Plus von 27 %, und der Marktanteil chinesischer Roboterzulieferer steigt, wenn auch von einem relativ niedrigen Niveau aus. Umweltschutz fördernAllerdings steht noch ein weiter Weg bevor angesichts der Tatsache, dass die Marktabdeckung von Robotern in China um mehr als 90 % geringer ist als beispielsweise in Südkorea. Die Übernahme von Kuka (einem der weltweit führenden Roboterhersteller mit Sitz in Deutschland) durch Midea, einen führenden chinesischen Hausgerätehersteller, verdeutlicht die Ambitionen Chinas in diesem Bereich.Eine Schlüsselkomponente der zweiten großen Transformation, die von westlichen Medien oft ignoriert oder unterschätzt wird, ist die Entschlossenheit Chinas, den Umweltschutz zu fördern. Im Umweltschutz entwickelt sich China schnell zu einem Vorreiter. Das Land fördert erneuerbare Energien. Dabei steht die Wind- und Solarenergie im Vordergrund. Die Entschlossenheit Chinas wird durch Taten untermauert. Im August 2017 rügte und bestrafte die Regierung knapp 100 hohe Beamte in der Provinz Gansu öffentlich für entstandene schwere ökologische Schäden als Zeichen dafür, dass Präsident Xi bereit ist, es mit Chinas ineffektiven, aber mächtigen örtlichen Bürokratien aufzunehmen. Aber das eigentliche Motiv ist Chinas Streben nach Selbstversorgung mittels erneuerbarer Energien. Tatsächlich treibt das kostenbewusste, aber energiehungrige China die Revolution der erneuerbaren Energien sowohl in der Wind- als auch in der Solarenergie voran.—-Greg Kuhnert, Portfoliomanager bei Investec Asset Management