„Das ist ein Vernichtungskrieg“
Stefan Paravicini.
Herr Gressel, Russland hat am Donnerstagmorgen die Ukraine überfallen. Hat Sie das überrascht, oder wäre nach der politischen und militärischen Eskalation der vergangenen Wochen und Monate das Ausbleiben eines Angriffs aus Ihrer Sicht die größere Überraschung gewesen?
Das kam mit Ansage. Der russische Präsident Wladimir Putin hat die Kriegsziele benannt, seine Rede am Montag war eine Kriegserklärung, und wir haben über Wochen den Aufmarsch von Truppen gesehen. Es war am Mittwochabend klar, dass es losgehen kann, und Donnerstagfrüh ist es losgegangen.
Folgt die Attacke denn einem Szenario, das Sie und andere Militärexperten schon vorher durchgespielt hatten, oder konnte man mit einem Angriff in dieser Form nicht rechnen?
Der Angriff folgt genau dem Playbook. Es geht nur ein bisschen schneller, als ich gedacht hatte. Ich war davon ausgegangen, dass die russischen Streitkräfte erst aus der Luft so viel wie möglich zerstören, damit der Landkrieg so einfach wie möglich gestaltet werden kann. Jetzt haben sie den Luftkrieg gleichzeitig mit der Landoffensive gestartet, diese beiden Phasen sind also zusammengefallen. Es gibt schwere Angriffe Richtung Charkow und Richtung Kiew, das war so zu erwarten. Die Luftlandungen haben sich bereits am Mittwoch abgezeichnet, um schnell über die Prypjatsümpfe hinwegzukommen. Hier gibt es starke ukrainische Verteidigungslinien, die man mit Luftlandungen aushebeln kann.
Die ukrainische Armee ist auf sich allein gestellt. Hat sie denn überhaupt die Möglichkeit, sich gegen den Aggressor zu verteidigen?
Es gab am Donnerstag starke Gefechte um Charkow. Die ukrainische Armee verliert Territorium, scheint aber massiven Widerstand zu leisten und den Russen auch Verluste zuzuführen. Das war ebenfalls zu erwarten. Man wird jetzt sehen, ob sich die ukrainischen Verbände geordnet bis zum Fluss Dnepr zurückziehen können und wie es dann weitergeht. Um Kiew wird eine schwere Schlacht entbrennen und das wird, glaube ich, der Knackpunkt werden. Das war aber auch der Hauptansatzpunkt des russischen Dispositivs. Auch das war also zu erwarten, und das wird jetzt wirklich bitter.
Was will der Kreml aus Ihrer Sicht mit der Attacke erreichen?
Russland will die Ukraine als kulturelle und soziale Identität zerstören. Das ist ein Vernichtungskrieg, der die flächendeckende Besetzung, die Installation eines Marionettenregimes und die Elimination der kulturellen und sozialen Identitätsträger – Politiker, Künstler, Journalisten – beinhaltet. Wir wissen, dass das alles vorbereitet wird. Die nachrichtendienstlichen Informationen über das Ausmaß des Angriffs waren exakt, und sie werden leider auch mit Blick auf das erwartete Ausmaß der Repression und des Terrors zutreffen.
Wie lange wird es Ihrer Einschätzung nach dauern, bis Russland die Ukraine militärisch bezwungen hat?
Ich würde sagen, das dauert zwei bis drei Wochen.
Kann der Westen jetzt noch Hilfe leisten, die die Kräfteverhältnisse in dem Krieg signifikant verschieben würde?
Jetzt ist es zu spät. Wenn wir parallel zum russischen Aufmarsch auch an der Nato-Ostflanke größere Kräfte aufmarschieren hätten lassen und diese vor dem Ausbruch eines Krieges auf Einladung der Ukraine zu Manövern in die Ukraine verlegt hätten, hätte man damit einen abschreckenden Moment geschaffen, der das Kriegsrisiko für Russland drastisch erhöht hätte. Wir haben uns entschlossen, das nicht zu tun und stattdessen diplomatisch und mit Sanktionen zu reagieren. Dieser Entschluss hat uns in diese Lage gebracht, und mit dieser Lage müssen wir jetzt leben.
Die Nato aktiviert ihre Verteidigungspläne, um an der Ostgrenze für Abschreckung zu sorgen, hat die Entsendung von Truppen in die Ukraine aber ausgeschlossen. Erwarten Sie, dass Putin das westliche Militärbündnis in diesem Konflikt trotzdem auch noch direkt herausfordert?
In der jetzt angelaufenen ersten Phase erwarte ich das nicht. Jetzt wird die Ukraine unterworfen. In einer zweiten Phase kann es aber durchaus dazu kommen. Denn ich glaube nicht, dass die Ukrainer akzeptieren werden, was die Russen ihnen als Regime vor die Füße werfen. Das heißt, es wird zu Widerstand kommen. Doch in Putins Welt ist jede Form von Widerstand das Werk der USA und der westlichen Verbündeten. Er wird die Verantwortung für ukrainischen Widerstand also beim Westen suchen und das Mittel seiner Wahl – also militärischen Druck – einsetzen, um den Westen davon abzubringen, weiter Widerstand in der Ukraine zu leisten. Ich rechne in den nächsten Jahren deshalb mit erheblichen militärischen Spannungen an der Nato-Ostgrenze und mit ähnlichen Szenarien wie zuletzt an der russisch-ukrainischen Grenze: Truppenaufmärsche, Manöver und nukleare Einschüchterung.
Wird das vor allem die Nato-Ostflanke und damit in erster Linie die baltischen Staaten treffen?
Das betrifft ganz Europa, da wird sich niemand herauswinden können.
Im Westen mehren sich jetzt die Stimmen, die Putin als einen Irren zeichnen, der umgeben von alternden Jasagern im Kreml sitzt und dort seinen Träumen von einem großrussischen Reich nachhängt. Ist das eine akkurate Beschreibung des russischen Präsidenten oder eher ein weiterer Hinweis auf die geopolitische Naivität Europas?
Putins Weltsicht, nach der die Ukraine kein souveräner Staat ist und auch kein eigenes Volk hat, ist bekannt. Das hat er immer wieder gesagt. Der Chauvinismus, der in weiten Teilen der russischen Eliten verbreitet ist, dürfte eigentlich auch niemanden überraschen. Da gibt es genügend deutsche Politiker und Manager, die da hingefahren sind und das sicherlich auch gehört haben. Der Verantwortung, dem nicht Rechnung getragen zu haben, versucht man sich jetzt mit der Ausrede zu entledigen, dass der Mann irre ist. Der Mann ist nicht irre, aber er hat natürlich eine eigene Rationalität, die in seiner Weltsicht funktioniert. Diese Weltsicht ist brandgefährlich, denn sie ist im Grunde vergleichbar mit der sozial-darwinistischen Weltsicht, die im frühen 20. Jahrhundert in Europa populär war.
Markiert der Angriff den Beginn einer neuen Phase des kalten Krieges, oder besteht ein Risiko für eine heiße Auseinandersetzung zwischen Ost und West?
Wenn es bei einem kalten Krieg bleibt, dann steigen wir da noch günstig aus.
Das Interview führte