LEITARTIKEL

Dem Gegner klar überlegen

Eigentlich müsste man nach dem demokratischen Nominierungsparteitag das Ergebnis der Präsidentschaftswahl fast vorwegnehmen können. Beim ersten virtuellen Parteikonvent in der Geschichte hat die Oppositionspartei eine gute Figur gemacht. Scharfe,...

Dem Gegner klar überlegen

Eigentlich müsste man nach dem demokratischen Nominierungsparteitag das Ergebnis der Präsidentschaftswahl fast vorwegnehmen können. Beim ersten virtuellen Parteikonvent in der Geschichte hat die Oppositionspartei eine gute Figur gemacht. Scharfe, aber berechtigte Angriffe richteten sich gegen den skrupellosen Regierungsstil sowie das Unvermögen des amtierenden Präsidenten Donald Trump, angemessen auf die Ausbreitung des Coronavirus zu reagieren. Gepaart waren diese Attacken auf den Gegner mit Lobgesängen auf den eigenen Spitzenkandidaten Joe Biden, dessen Empathie und nachgewiesene Fähigkeit, politisch zu vermitteln statt die Nation zu spalten, das genaue Gegenteil von Trump darstellen.Die Kritik an Trump, die Charakterfrage und Bidens überlegene Qualifikationen nach 36 Jahren im Senat und acht Jahren als Vizepräsident in den Mittelpunkt zu stellen, war ein politisch geschickter Schachzug. Vieles spricht deshalb dafür, dass Biden in den Wählerumfragen seinen Vorsprung in den kommenden Tagen weiter ausbauen wird. Umso mehr darf man gespannt sein, was die Republikaner Biden kommende Woche bei ihrem eigenen Medienspektakel entgegensetzen werden.Zu erwarten ist, dass Trump seinen Rivalen als “Linksradikalen” und Sozialisten beschimpft und “alternative Fakten” als Realität zu verkaufen versucht, ob es um die Lage der Wirtschaft oder um sein Agieren in der Coronakrise geht. So viel derzeit für Biden spricht, insbesondere die Tatsache, dass er in “swing states” mit einem hohen Anteil an Wechselwählern die Nase vorn hat, wissen Demokraten sehr wohl, dass der Sieg längst nicht eingetütet ist. Schließlich hat Trump signalisiert, dass er um jeden Preis im Amt bleiben und zu diesem Zweck Briefwahlen unterminieren will und ein Ergebnis, das nicht in seinem Sinne ausfällt, womöglich nicht anerkennen würde.Doch angenommen, Biden kann seinen Vorsprung über die Ziellinie retten und steht am 3. November als so souveräner, unanfechtbarer Sieger da, dass selbst Donald Trump kapitulieren müsste: Was käme dann? Bei seiner Inauguration wäre der 46. Präsident 78 Jahre alt. Es gibt mehr als ein Indiz dafür, dass der Demokrat an Energie und Geistesgegenwart eingebüßt hat. Um die Coronakrise zu meistern und die schwächelnde Wirtschaft wieder aus der Talsohle herauszuführen, müsste er sich folglich mit einem erstklassigen Kabinett umgeben, was ihm sicherlich gelingen dürfte. So gesehen ist anzunehmen, dass Biden einige der Berater an Bord holen wird, die auch während der Obama-Administration Schlüsselpositionen hatten. Auch würde er an einige der wichtigsten Initiativen des früheren Präsidenten anknüpfen. So plant Biden insbesondere, jene Gesundheitsreform, die Trump seit drei Jahren systematisch zu unterlaufen versucht, weiter auszubauen.Der Demokrat würde aber auch neue Akzente setzen wollen, etwa Unternehmen ebenso wie die wohlhabendsten Amerikaner höher besteuern, über Investitionen in eine “grüne Infrastruktur” mehrere Millionen Arbeitsplätze schaffen und angeschlagene internationale Beziehungen kitten – ob in der Handels-, Sicherheits- oder Umweltpolitik. Auch wird er sich gewiss daranmachen, die US-Bundesstaaten zu unterstützen, die sich als Folge der Gesundheitskrise überschuldet haben, aber gesetzlich gezwungen sind, ihre Haushalte auszugleichen. Dass Biden jenen Wandel herbeiführen kann, den sein früherer Chef sich vor zwölf Jahren an die Fahnen geheftet hatte, ist unwahrscheinlich. Schließlich ist der Karrierepolitiker ein prototypischer Vertreter jenes “politischen Establishments”, in dem Industrielobbyisten mit großzügigen Spenden Gesetzesinhalte maßgeblich beeinflussen. Gleichwohl müsste Biden auch den Forderungen jener progressiven Fraktion aufstrebender, junger Demokraten Rechnung tragen, die der Partei bereits 2018 zu einem Durchmarsch bei den Kongresswahlen verhalfen und ihr in den kommenden Dekaden zweifellos ihren Stempel aufdrücken werden.Jetzt, da sich Trumps vielleicht einzige Amtsperiode dem Ende zuneigt, kann es aber auch sein, dass Wähler ihre Ansprüche zurückgeschraubt haben. Womöglich wären sie bereits mit einem keineswegs perfekten Präsidenten zufrieden, der sich wie Biden nicht über dem Gesetz wähnt, auf Integration statt Spaltung setzt, das Ziel hat, Amerikas ramponiertes Ansehen auf dem globalen Parkett wiederherzustellen, und somit seinem Gegner in jeder Hinsicht deutlich überlegen ist.——Von Peter De ThierJoe Biden ist mit seiner Empathie und mit seiner nachgewiesenen Fähigkeit, politisch zu vermitteln, das genaue Gegenteil von Donald Trump. ——