DIE ÖKONOMISCHE ORDNUNG ZERBRICHT

Der Zorn der Massen auf die politische Welt der Reichen

Die Unsicherheit in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft wird zur Gefahr - Brexit, Trump, Globalisierung, Digitalisierung und die Wiederkehr der sozialen Frage

Der Zorn der Massen auf die politische Welt der Reichen

Von Stephan Lorz, FrankfurtIm Jahr 1977 brachte John Kenneth Galbraith, damals einer der einflussreichsten Ökonomen, zusammen mit der britischen BBC eine Serie mit dem Titel “The Age of Uncertainty” heraus. Noch unter dem Eindruck der Ölkrise und des Siegeszugs der angebotsorientierten ökonomischen Lehre, welche mit strikter Deregulierung und Liberalisierung ein radikales Umsteuern verlangte, wollte er damit auf die Unsicherheit verweisen, die Politiker und Ökonomen erfasst hat. Ihnen war angesichts sich neu abzeichnender Krisen (zweite Ölkrise 1979), hoher Inflation und schwächelnden Realwachstums sowie zunehmender Massenarbeitslosigkeit ihr gewohntes Koordinatensystem abhandengekommen.Damals blieb die Politik aber berechenbar, und der Zorn der Masse hielt sich in Grenzen. Der neue US-Präsident Jimmy Carter sorgte für eine gewisse Ausgeglichenheit. Der nächste Ölschock wurde verkraftet. Und dem neuen ökonomischen Narrativ, das mit der britischen Premierministerin Margaret Thatcher und US-Präsident Ronald Reagan zum Zuge kam, war sogar einiger Erfolg beschieden. Politisch obsiegte der Kapitalismus über den Kommunismus, der Eiserne Vorhang hob sich, die deutsche Teilung war beendet.Heute ist die ökonomische Welt erneut von großer Unsicherheit erfasst: Die Finanzkrise hat die bisherigen Wahrheiten des Kapitalismus erschüttert und lässt seine Verheißungen unglaubwürdig erscheinen. Zumal viele Menschen bis heute nicht wieder das Wohlstandsniveau der Vorkrisenzeit erreicht haben. Neben der wachsenden Ungleichheit, den zu lange negierten gesellschaftlichen Folgen aus Globalisierung und Strukturwandel, stellen die wieder aufbrechende Eurokrise, die Flüchtlingsströme, der Terrorismus und der aufkommende Populismus bisherige Gewissheiten erneut infrage. Die Gemengelage der Probleme hat dabei ein Ausmaß erreicht, das die Welt in Unordnung stürzen könnte.Ausgangspunkt des Problems ist eine tiefe Sinnkrise des Kapitalismus. Schon Ende 2015 mahnte der Ökonom Robert Reich, einst Arbeitsminister unter US-Präsident Bill Clinton, in seiner Schrift “Saving Capitalism – for the Many, Not the Few”, man müsse den Kapitalismus vor den Finanzoligarchen retten. Und er warnte die Politik davor, sich in die von Konzernen beeinflussten Abhängigkeiten zu fügen, die als “Marktwirtschaft” verbrämt würden. Sie würde dann die einfachen Menschen im Stich lassen, was diese in die Arme von Populisten treibe. Er wollte die Warnung explizit auf die USA bezogen wissen, wo die Einkommens- und Vermögensungleichheit besonders krass ist. In Deutschland, so Reich, sei es noch nicht so dramatisch, weil hier eine andere Form der Marktwirtschaft implementiert sei. Doch der Trend gehe unter dem Zwang der Globalisierung auch hier in diese Richtung.Selbst Institutionen wie der Internationale Währungsfonds (IWF) weisen immer wieder sorgenvoll auf die wachsende Ungleichheit hin, weil dadurch auch die wirtschaftliche Basis erodiere. Der Anteil der Arbeitseinkommen an der Wertschöpfung sinkt nach Angaben der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) seit Jahren, während die großen Vermögen wachsen – und sich der Besteuerung entziehen, wie die Industrieländerorganisation OECD beklagt.Vom Staat ist insofern immer weniger zu erwarten, weil er in der globalisierten Finanzwelt immer größere Schwierigkeit hat, die international hypermobilen Konzerne noch zur Steuerzahlung heranzuziehen. Die aktuelle Debatte über die Milliarden, die Softwarekonzerne in Irland steuersparend “lagern”, spricht Bände. Wegen der immensen Volumina musste Dublin schon die Berechnung des irischen Bruttoinlandsprodukts (BIP) korrigieren.Allerdings haben sich die Staaten eines Großteils ihres Bewegungsspielraums auch selbst beraubt. Denn ihre Verschuldung steigt weiter; das ist politisch bequemer, als konsolidieren zu müssen. Jeder Zwang diesbezüglich wird daher als “Austeritätspolitik” verschrien. Angesichts des Verschuldungsniveaus fragen sich die Menschen aber, inwieweit das überhaupt noch tragbar ist – vor allem wenn die Zinsen steigen. Druck auf die LöhneZugleich wird deutlich, dass Politik und Wirtschaft auch beim Management der Globalisierung versagt haben. Millionen Menschen aus den Entwicklungsländern und den Emerging Markets sind zwar der Armut entrissen worden, weil Konzerne dort jetzt Arbeitsplätze geschaffen haben, zugleich aber hat der Druck auf die Löhne in den Industrieländern weiter zugenommen. Die sogenannten Globalisierungsverlierer haben inzwischen eine politisch kritische Masse erreicht, wie das Brexit-Votum und die Wahl von Donald Trump zum nächsten US-Präsidenten gezeigt haben. Die Folgen sind bislang nicht abzusehen. Von der Verunsicherung, die von der demografischen Entwicklung ausgeht, weil die Sozialsysteme noch kaum darauf eingestellt wurden, und von der Digitalisierung, welche den Strukturwandel weiter beschleunigt und neue Verlierer produziert, ist dabei noch gar nicht die Rede.Selbst wenn sich bislang nur in einem Land – den USA – eine Art “Volkstribun” abzeichnet, kann vor diesem Hintergrund gleichwohl von einer neuen populistischen Phase gesprochen werden. Denn die Entwicklung wird auch die Politik der etablierten Parteien tiefgreifend verändern – sie werden noch weniger berechenbar als bisher schon.Die Lage in Europa ist besonders labil, weil sich der Kontinent in einer tiefen Wachstumskrise befindet und seine politische Architektur unvollkommen ist. Erstaunlicherweise erhöht das Gefühl, der digitalen Entwicklung und der Globalisierung ausgeliefert zu sein, gerade nicht die Solidarität innerhalb der EU, sondern verstärkt eher die nationalistischen Tendenzen. Brüssel hat es offenbar nicht vermocht, den Europäern ein Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit zu vermitteln. Stattdessen wollen sich viele “vom Joch der Fremdbestimmung durch Brüssel” (Marine Le Pen, Front National) befreien.Die soziale Frage verbindet sich mit dem Nationalismus – eine gefährliche Mischung gerade in einer Zeit, da auch auf die Währung kein Verlass mehr zu sein scheint. Die Europäische Zentralbank (EZB) setzt sich zwar für mehr Wachstum ein, doch geschieht dies auf unkonventionelle Weise durch Anleihekäufe und Negativzinsen. Deren “Nebenwirkungen” sind nicht einmal ansatzweise abschätzbar. Die Verunsicherung steigt damit weiter an.Einst wird sich die EZB auch dafür rechtfertigen müssen, dass sie die Ungleichheit in den Gesellschaften mit ihrer unkonventionellen Geldpolitik noch vergrößert und die sozialen Spannungen eher verstärkt hat. Denn Sparer werden gegenüber Vermögensbesitzern, die mehr auf Sachwerte und Aktien setzen, benachteiligt. Effekte, die bislang eher als Randaspekte der Geldpolitik behandelt worden waren.Jetzt rächt sich, dass die soziale Frage in der Ökonomie in jüngerer Zeit zu kurz kam. Die stabilisierende Wirkung der Sozialpolitik für den gesellschaftlichen Zusammenhalt wurde abgetan, lieber das hohe Ausgabenvolumen in den Sozialetats gegeißelt. Inzwischen warnen aber Ökonomen wie jene der Deutschen Bank vor den wachstumsdämpfenden Wirkungen zu großer Ungleichheit. Und sie weisen ihre Kollegen darauf hin, dass es nicht mehr um statistische Größen wie den Gini-Koeffizienten geht, die für Deutschland eher beruhigende Werte signalisieren, sondern um die gefühlte Ungleichheit, deren Wahrnehmung auch vom Verhalten öffentlicher Personen wie Manager oder Banker abhängt.In vielerlei Hinsicht ist der Kapitalismus aus dem Ruder gelaufen. Es geht wie in den siebziger Jahren um das richtige Maß an Liberalisierung und Regulierung, an Wettbewerbsfreiheit und sozialem Schutz – letztendlich um die richtige Ordnungspolitik in einer Welt, deren Gesetzmäßigkeiten sich verändern. Letztlich geht es um das Wohl der vielen, nicht der wenigen, nach dem sich die Wirtschaftspolitik zu richten hat, mahnt Ökonom Reich. Das hatten viele der Akteure vergessen. Vorschläge zur Rettung des “digitalen Kapitalismus” wie ein bedingungsloses Grundeinkommen, das jetzt Größen aus dem Silicon Valley – zuletzt auch Siemens-Chef Joe Kaeser – gefordert haben, sind eher Schnellschüsse und sollen die zornigen Verlierer der Gesellschaft schlicht besänftigen – und als Kunden erhalten. Bezahlen müsste es ja der Staat. Und dem Zugriff des Fiskus wissen sich die Weltkonzerne zu entziehen.