Durch Russland-Krise

Deutsche Energiepolitik am Abgrund

Nach dem Aus der Kernenergie sieht nun auch die Erdgaszukunft düster aus. Ob künftig noch ausreichend Erdgaslieferungen aus Russland nach Deutschland kommen, bleibt höchst unsicher. Wenn das milliardenschwere Projekt Nord Stream 2 als Resultat der...

Deutsche Energiepolitik am Abgrund

Nach dem Aus der Kernenergie sieht nun auch die Erdgaszukunft düster aus. Ob künftig noch ausreichend Erdgaslieferungen aus Russland nach Deutschland kommen, bleibt höchst unsicher. Wenn das milliardenschwere Projekt Nord Stream 2 als Resultat der Ukraine-Krise von der Bundesregierung endgültig gestoppt wird, wird sich Moskau massiv geschädigt fühlen. Eine solche Konfrontation gefährdet alle künftigen Erdgasgeschäfte mit Russland. Doch Russlands Invasion in die Ukraine lässt keine Alternative zu.

In der Bundesregierung beginnt nun endlich ein energiepolitisches Umdenken – zwar spät, aber immerhin werden selbst radikale Neuorientierungen nicht ausgeschlossen: Weiterbetrieb der drei noch verfügbaren Reaktoren über 2022 hinaus; Aufbau einer staatlichen Erdgasreserve; Aktivierung von Kohleanlagen aus der bisherigen Reserve; Installation eines LNG-Terminals für Deutschland.

Ein anhaltender Mengenausfall von russischem Erdgas kann kurzfristig allerdings kaum kompensiert werden. Die Bevölkerung muss sich daher aktuell auf weiter stark steigende Energiepreise, auf wachsende Strom-Blackout-Risiken, auf Einschränkungen der Mobilität und den Abbau von Arbeitsplätzen einstellen. Die deutsche Energiepolitik gilt keineswegs als ein erfolgreiches Modell für Europa oder gar die Welt. Im Gegenteil: Es gibt keine tragfähigen Argumente für die nationale Energiewende seit 2011 im Alleingang mit der schrittweisen Suspendierung des Strombinnenmarktes. Der isolierte Vorstoß hat die EU-Partner vor den Kopf gestoßen und keine Nachahmer für den Kernenergieausstieg gefunden.

Es drohen Blackouts

Bei den Strompreisen ist Deutschland internationaler Spitzenreiter. Strom wird zu einem Luxusgut. Ein realistisches Szenario für den nächsten Winter: ein eisiger Winter mit Windstille und wenig Sonne – dann drohen Blackouts in der Stromversorgung. Die für eine zuverlässige Elektrizitätsversorgung rund um die Uhr bewährten Kernkraftwerke sind bis dahin allesamt stillgelegt worden. Mehr Kohlestrom aus deutschen Anlagen gilt als ökologisch verpönt; ausreichende Erdgasangebote sind nicht garantiert. Und importierter Kernenergiestrom aus Frankreich und Tschechien sowie schmutziger Kohlestrom aus Polen stehen möglicherweise dann nicht ausreichend zur Verfügung und kommen in jedem Fall sehr teuer.

Die Energiepolitik der alten wie auch der neuen Bundesregierung gleicht einem Torso oder findet erst gar nicht statt: Stilllegung der Nuklearindustrie zusammen mit der Forschung, Verdrängung nationaler Stein- und Braunkohle, Verzögerungen beim Ausbau von Erdgaskraftwerken und beim Aufbau von LNG-Terminals, Expansionspläne für Ökoenergie ohne angepasste Netzinfrastruktur und Speicherkapazität.

Deutschland ist für die Energiezukunft schlecht gerüstet. Auf der einen Seite wird eine globale Vorreiterrolle zu einer möglichst klimaneutralen Energieversorgung angepeilt; auf der anderen Seite sind international besonders leistungsfähige, CO2-freie Kernkraftwerke schon vom Netz genommen worden. Dabei besaßen deutsche Reaktoren weltweit immer Spitzenplätze in der Auslastung. Ein Schildbürgerstreich, denn ohne Kernkraft muss der Ausbau der erneuerbaren Energie zusammen mit Wasserstoff im Tempo kurz- bis mittelfristig verfünffacht werden. Gleichzeitig ist es notwendig, den durch Genehmigungshürden blockierten Ausbau von Stromtrassen möglichst rasch zu beenden. Nur so lässt sich an Nord- und Ostsee erzeugte Windenergie ausreichend in den Süden zu den dortigen Ballungsschwerpunkten transportieren.

Engpässe in der Stromversorgung und Umrüstungskosten in Billionenhöhe für eine klimaneutrale Volkswirtschaft Deutschland verlangen ein Umdenken in der Energiepolitik, um einem Crash zu verhindern: Die für Ende 2022 politisch verordnete Stilllegung der noch laufenden drei Reaktoren bedürfte umgehend einer Stornierung; der Bau im Jahr nur kurzzeitig als Puffer genutzter Erdgaskraftwerke sowie die Installation von LNG-Terminals sollten staatlicherseits unterstützt werden. Gleichzeitig müssen die Genehmigungsbarrieren insgesamt endlich entschlackt werden.

Der Strombedarf steigt beträchtlich. Ein Viertel an Zuwachs ist schon in den nächsten zehn Jahren wahrscheinlich – nicht zuletzt durch politisch gewünschte Elektroautos. Auf Sicht müsste daher auch der Wiedereinstieg in eine deutsche Nuklearindustrie ausgelotet werden. Wie schon beim Transrapid, der in Deutschland unverständlicherweise gestoppt wurde und in China erfolgreich läuft, ist hierzulande Know-how für den Bau von Atommeilern politisch leichtfertig verspielt worden, das nun erst wieder reaktiviert werden muss.

Alle Industrienationen mit Ausnahme Deutschlands bauen die Kernenergienutzung nachhaltig aus, um eine zuverlässige Stromversorgung rund um die Uhr ohne CO2-Emissionen zu garantieren. Die Uranpreise ziehen weltweit massiv an. Die USA, Frankreich, China, Großbritannien, Russland und auch Japan – trotz des Unfalls 2011 – entwickeln neue kleine, flexiblere Reaktoren. Die Endlagerung von atomarem Müll ist zum Beispiel in Finnland fortgeschrittener und wäre auch in Deutschland wesentlich weiterentwickelter, würden die Forschung und Entwicklung nicht ständig ausgehebelt. Erfolge in der Kernfusion ohne radioaktive Abfälle bleiben erst nur eine langfristige Vision – hoffentlich wenigstens in der zweiten Hälfte dieses Jahrtausends. Deutschland braucht bis dahin aber auch neue Kernreaktoren. Da mit einer solchen nukleartechnischen Entwicklung positive externe Effekte für die langfristige Sicherung der klimaneutralen Stromversorgung Deutschlands verbunden sind, erscheinen staatliche Hilfen für den Wiedereinstieg gerechtfertigt. In der Energiepolitik ist ein Umdenken geboten, um einen Crash zu verhindern. Sonst verspielt Deutschland als Industriestaat seine Zukunft.

Das Primat der Klimaneutralität von Energieversorgung reicht nicht; Zuverlässigkeit und Wettbewerbsfähigkeit müssen gleichrangig sein. Für den Worst Case in der Ukraine-Krise empfiehlt sich folgende kurzfristige Schadensvorsorge, um einen Zusammenbruch mit Blackouts zu verhindern: neben dem Weiterbetrieb der drei noch verfügbaren Reaktoren über 2022 hinaus Bezug von verflüssigtem Erdgas aus Algerien über Spanien und zusätzliche Lieferungen aus Norwegen, Aktivierung noch verfügbarer Kraftwerke aus der Reserve mit Verstromung deutscher Braun- und Steinkohle und flexible Verlagerung industrieller Stromnachfrage von den Spitzenverbrauchszeiten durch finanzielle Anreize.

Große Schiefergasressourcen

In jedem Fall empfiehlt sich in den verbrauchsarmen Sommermonaten die massive Aufstockung von eingelagerten Erdgasvorräten für den Winterbedarf zusammen mit einem langfristigem Management staatlicher Reserven wie beim Öl. Schließlich ist es unumgänglich, neue Gaslagerstätten im Inland mittels Fracking endlich zu mobilisieren und das politische Verbot der kommerziellen Nutzung von „unkonventionellem Fracking“ aus dem Jahr 2016 sofort aufzuheben. In Deutschland schlummern noch erhebliche Schiefergasressourcen – immerhin die viertgrößten Vorräte in Europa.

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