„Die EZB unterschätzt den Inflationsdruck“
Mark Schrörs.
Herr Schmieding, die Inflation im Euroraum ist im September auf 3,4% geklettert. Ist das wirklich nur noch ein vorübergehendes Phänomen oder wird die Inflation nicht doch allmählich zu einem dauerhafteren Problem?
In der hohen Inflationsrate von jetzt 3,4% in der Eurozone drücken sich vor allem die bekannten Sonderfaktoren aus. Vor einem Jahr waren pandemiebedingt viele Preise außerordentlich niedrig, gerade auch für Öl. Dazu kam die abgesenkte deutsche Mehrwertsteuer. Der Vergleich der heutigen Preise mit den besonders niedrigen vor einem Jahr ergibt halt eine hohe Jahresrate der Inflation. Aufschlussreicher ist deshalb der Vergleich mit den Preisen vor der Pandemie. Im September 2021 überschritten die Verbraucherpreise ihr Niveau vom September 2019 um 3,0%. Das ergibt einen durchschnittlichen Anstieg um 1,5% pro Jahr. Bereinigt um den kurzzeitigen Preisverfall im Jahr 2020 liegt die Inflationsrate also noch unter dem Zielwert der EZB von 2% pro Jahr.
Hinter dem starken Inflationsanstieg stecken neben Sondereffekten auch die Engpässe bei Rohstoffen und Vorprodukten, und die Zentralbanken warnen verstärkt, dass das länger anhalten wird. Wie schätzen Sie die Lage ein?
Die Lieferengpässe werden sich nur langsam auflösen. Dazu kommt der Bedarf, leer gefegte Lager wieder aufzufüllen. Auch die Rohstoffpreise dürften bei guter Konjunktur noch weit bis ins Jahr 2022 hinein hoch bleiben. Im Januar könnte die Inflation wieder unter 3% fallen, wenn die Rückkehr zur normalen deutschen Mehrwertsteuer aus dem Vorjahresvergleich herausfällt. Im Sommer dürfte die Inflation sogar kurzzeitig auf knapp 1,5% sinken. Danach wird allerdings ein langfristiger Aufwärtstrend einsetzen, getrieben vor allem durch höhere Lohnkosten. Bei anhaltend guter Nachfrage – die Verbraucher haben in der Pandemie viel Geld gespart – können Unternehmen auch höhere Löhne auf die Verbraucher überwälzen. 2023 dürfte die Inflation 1,9% erreichen und in 2024 leicht darüber liegen.
Zuletzt sind vor allem auch die Gas- und Energiepreise regelrecht explodiert. Das wird nun auch Thema beim nächsten Gipfel Mitte Oktober. Sollte die Politik einschreiten? Wenn ja, wie?
Allzu viel kann die Politik kurzfristig nicht tun. Es handelt sich um ein globales Phänomen, getrieben weitgehend von Angebot und Nachfrage. Natürlich sollte die Politik zum einen besondere soziale Härten ausgleichen. Zum anderen sollte sie für einen möglichst raschen Ausbau alternativer Energiequellen sorgen. Auch ein kritischer Blick darauf, ob Russland all seine Lieferverpflichtungen voll erfüllt, wäre angemessen.
CSU-Chef Markus Söder hat eine „Inflationsbremse“ für die EZB gefordert. Ab 5% Inflation müsse die EZB handeln. Notfalls solle die Regierung über die deutschen Notenbanker im EZB-Rat Einfluss nehmen. Was halten Sie davon?
Jahrzehntelang haben sich gerade konservative Kreise in Deutschland zu Recht für die Unabhängigkeit der Zentralbank starkgemacht. Es ist auch dieser Unabhängigkeit zu verdanken, dass die deutsche Inflation seit dem Beginn des Euro bei durchschnittlich 1,4% gelegen hat, halb so hoch wie im Durchschnitt der Ära der Bundesbank vorab. Söders Vorschlag ist hoffentlich nicht mehr als Wahlkampfgetöse. Denn sollte Deutschland mit solch einem versuchten Eingriff in die Unabhängigkeit unserer Währungshüter wirklich Ernst machen, könnte ich mir ganz andere Vorschläge aus manchen der anderen 18 Mitgliedsländer vorstellen. Wer die Büchse der Pandora öffnen will, tut dies auf eigene Gefahr.
Die EZB hält bislang an ihrem ultralockeren Kurs fest. Ist das noch angemessen oder sollte die EZB dem Vorbild anderer Zentralbanken folgen und entschlossener Richtung Wende marschieren?
Die EZB unterschätzt den langfristigen Inflationsdruck. Wir erwarten 1,9% für 2023, die EZB nur 1,5%. Deshalb wäre es angemessen, dass sie auch die geldpolitische Wende etwas schneller einleitet, als sie dies derzeit in Aussicht stellt. Allerdings kann sie es sich leisten, dabei langsamer und vorsichtiger als die Fed und die Bank of England vorzugehen. Schließlich ist bei uns – auch dank der alles in allem recht erfolgreichen Politik der EZB – der Preis- und Lohndruck deutlich geringer als in den USA und Großbritannien.
Ganz konkret gefragt: Sollte die EZB im März 2022 das Corona-Notfallanleihekaufprogramm PEPP beenden? Sollte sie dann das parallele Kaufprogramm APP aufstocken? Und wann sind erste Zinserhöhungen angebracht?
Die EZB sollte das Corona-Notprogramm im ersten Halbjahr 2022 schrittweise auslaufen lassen. Als Teil eines sanften Übergangs zu normaleren Verhältnissen kann sie dabei vorübergehend das normale APP-Kaufprogramm etwas aufstocken. Aber bitte nur geringfügig, zeitlich begrenzt und ohne die volle Flexibilität des Krisenprogramms. Aus unserer Inflationsprognose von 1,9% für 2023 und etwas über 2% für 2024 ergibt sich ein Bedarf, die Leitzinsen Ende 2023 erstmals anzuheben.
Die anziehende Inflation hat auch die langfristigen Inflationserwartungen deutlich steigen lassen. Zugleich erklären Gewerkschaften verstärkt, dass sie mehr auf einen Ausgleich für die hohe Inflation drängen werden. Besteht nicht die Gefahr, dass sich eine „Inflationsdenke“ manifestiert?
Mit aktuell 1,8% sind die Inflationserwartungen noch immer gut verankert. Zum Glück sind die übertriebenen Deflationssorgen wohl endgültig vom Tisch. Eine echte „Inflationsdenke“ zeichnet sich nicht ab. Der Rückgang der Inflationsraten ab Januar 2022 dürfte dazu beitragen, dieses Risiko einzugrenzen. Aber eins ist völlig richtig: Bei zunehmender Knappheit an Arbeitskräften werden die Arbeitnehmer und ihre Gewerkschaften in Verhandlungen und am Markt höhere Lohnzuwächse durchsetzen können. Deshalb rechnen wir ja damit, dass die Inflation in den kommenden Jahren im Trend etwa zum 2-Prozent-Ziel zurückkehren wird, statt wie fast immer in den vergangenen 13 Jahren erheblich darunter zu liegen. Hier könnte auch die Wirtschaftspolitik etwas dazu tun. Je mehr sie es den Unternehmen erleichtert, mit Investitionen ihre Arbeitsproduktivität zu steigern, desto mehr lassen sich höhere Lohnzuwächse auf längere Sicht mit einer verhaltenen Inflation um 2% vereinbaren.
Die Fragen stellte