„Die Geldpolitik ist vielleicht deutlich restriktiver als die EZB es annimmt“
Im Interview: Evelyn Herrmann
„Die EZB ist viel zu restriktiv“
Ökonomin der Bank of America schätzt den neutralen Zins auf deutlich unter zwei Prozent
Die Ökonomin Evelyn Herrmann begrüßt die Zinssenkung der EZB. Sie hält die Geldpolitik für deutlich restriktiver als die Notenbank und spricht sich daher für ein schnelles und hohes Tempo bei der Zinswende aus. Weshalb sie den neutralen Zins unter 2% verortet, erklärt die Volkswirtin der Bank of America im Interview.
Frau Herrmann, die EZB hat, anders als vor wenigen Wochen noch erwartet, die Zinsen abermals gesenkt. War das der richtige Schritt?
Schon seit geraumer Zeit hatten wir erwartet, dass die Datenlage die EZB irgendwann dazu bringen wird, das Zinstempo anzuziehen. Sie hat es jetzt schneller getan, als wir ursprünglich gedacht hatten. Die wirtschaftliche Erholung ist schwächer als von der EZB erwartet. Die Daten der vergangenen Monate haben offenbar so viele Fragezeichen bei der Notenbank aufgeworfen, dass sie diese nicht länger ignorieren konnte.
EZB-Präsidentin Christine Lagarde wollte gestern nicht kommentieren, ob eine weitere Zinssenkung im Dezember folgen dürfte oder nicht. Ich nehme an, Sie erwarten eine?
Unsere Prognose ist, dass die EZB bis Juni 2025 bei jeder Sitzung eine Zinssenkung um 25 Basispunkte verkünden wird. Dann läge der Einlagensatz bei 2%. Doch auch dann dürfte noch nicht Schluss sein. Wir erwarten noch zwei weitere Lockerungen bis Ende nächsten Jahres, dann auf einen Einlagensatz von 1,5%.
Damit wäre die Geldpolitik nach Einschätzung vieler Ökonomen Ende 2025 expansiv. Auch nach Ihrer?
Ich halte es für schwer zu argumentieren, warum der neutrale Zins höher liegen soll als vor 2019. Natürlich lässt sich der neutrale Zins nicht exakt bestimmen, aber ich gehe davon aus, dass er eher bei 1,5% liegt als bei 2% oder darüber. Insofern nein, auch nach diesen Zinssenkungen wäre die Geldpolitik meiner Einschätzung nach nicht expansiv.
Ökonomen und auch einige Notenbanker argumentieren, dass aufgrund von strukturellen Themen wie etwa geopolitischen Konflikten oder der grünen Transformation der Wirtschaft der neutrale Zins gestiegen ist. Weshalb überzeugt Sie das nicht?
Nehmen wir mal das Beispiel Arbeitsmarkt: Ein knappes Arbeitskräfteangebot könnte zu höheren Löhnen und einer höheren Inflation führen. Genauso könnten aber auch weniger Menschen im arbeitsfähigen Alter die gesamtwirtschaftliche Nachfrage senken, was die Inflation dämpft. Die Forschung ist sich uneins, ob der demografische Wandel letztlich zu einer strukturell höheren Inflation führt oder nicht. So sieht das auch mit den anderen von Ihnen angesprochenen Themen aus. Davon auszugehen, dass die Inflation strukturell mit Sicherheit höher sein wird, halte ich daher für falsch. Und wenn sich die Geldpolitik der EZB daran ausrichten würde, wäre das ein großes Risiko.
Weil die Geldpolitik zu restriktiv wäre?
Die Geldpolitik ist vielleicht deutlich restriktiver als die EZB es annimmt, wenn wir eben den neutralen Zins niedriger verorten. Dadurch bremst die EZB die Wirtschaft stärker ab, als sie es einschätzt. Es ist daher sehr sinnvoll, dass sie die Zinsen erneut gesenkt hat und damit der Wirtschaft mehr Luft zum Atmen gibt. Die EZB ist derzeit viel zu restriktiv. Es braucht deutliche Zinssenkungen.
Ist das der Grund, weswegen die EZB wiederholt zu optimistisch bei ihren Wachstumsprognosen war?
Die Vorhersagen der EZB gerade zur Entwicklung des privaten Konsums und der privaten Investitionen sind recht optimistisch. Und diese Annahmen scheinen sich nicht zu erfüllen. Wobei ich sagen muss, dass wir alle im Kollektiv etwas überrascht sind, wie sich die Sparquoten seit letztem Sommer entwickelt haben.
Weshalb halten sich die Verbraucher trotz Reallohngewinnen weiterhin mit größeren Ausgaben zurück?
Das ist schwierig zu beantworten. Eine vergleichsweise hohe Sparquote lässt sich vielleicht mit einem permanenten Effekt der Energiekrise auf den langfristigen Ausblick erklären. Doch die zweite Frage ist, warum die Sparquote sogar wieder steigt. Das wirft eine Vielzahl weiterer Fragen auf. Für die Konjunktur in der Eurozone ist es jedenfalls keine gute Nachricht.
Die wirtschaftliche Schwäche Europas liegt auch an strukturellen Komponenten. Wie stark können Zinssenkungen daher überhaupt zu einer höheren wirtschaftlichen Aktivität führen?
Die Geldpolitik wirkt sich doch merklich auf die Wirtschaft aus. Um die Effekte auf die Realwirtschaft zu sehen, ist es wegen der verzögerten Wirkung der Geldpolitik aber noch zu früh. Bei den Kreditkonditionen sehen wir bereits, dass sie nicht weiter gestrafft werden. Wenn sie dann in den kommenden Monaten lockerer werden, entlastet das die Wirtschaft und sollte Wachstum etwas leichter machen.
Wäre eine expansive Geldpolitik der EZB im Laufe von 2025 Ihrer Meinung nach eine Überlegung wert?
Ja, es ist schon heute ein Risikoszenario. Wenn die Wirtschaft weiter nicht in Schwung kommt und die Inflationsperspektiven ab 2026 deutlich unter 2% fallen könnten, dann sollte das in der EZB diskutiert werden.
Das Interview führte Martin Pirkl.