IM BLICKFELD

Die ökonomische Dimension der Flüchtlingskrise

Von Stephan Lorz, Frankfurt Börsen-Zeitung, 18.11.2015 Der Chefvolkswirt der Deutschen Bank, David Folkerts-Landau, bezeichnet es als "Chance für Deutschland", der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Marcel Fratzscher,...

Die ökonomische Dimension der Flüchtlingskrise

Von Stephan Lorz, FrankfurtDer Chefvolkswirt der Deutschen Bank, David Folkerts-Landau, bezeichnet es als “Chance für Deutschland”, der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Marcel Fratzscher, spricht von einem “Weckruf”. Beide beziehen sich damit auf den Flüchtlingsstrom aus dem Nahen Osten und aus Afrika, der sich auf unser Land weiter zubewegt. Mehr als 800 000 Menschen sind schon angekommen. Sie befinden sich in Aufnahmezentren, werden auf Kommunen verteilt und ihre Asylgesuche werden bearbeitet. Allein die schiere Masse an Menschen, die vor Kriegsgräuel und Perspektivlosigkeit fliehen, versetzt Teile der heimischen Bevölkerung in Angst. Auch schlummernde nationalistische und fremdenfeindliche Züge treten hervor und zeigen die Fratze des “dunklen Deutschland”, wie Kommentatoren die Welle an Gewalt gegen Flüchtlinge bezeichnen.Dabei wird allzu schnell vergessen, dass sich der Erfolg Deutschlands – und seiner Wirtschaft – schon immer auch aus der Zuwanderung gespeist hat. Und die Errungenschaften, deren Verteidigung viele Populisten heute vorgeben, sind somit ebenso von einstigen “Ausländern” geschaffen worden.Viele Sorgen entspringen aber weniger einer rassistischen Grundstimmung, sondern der Befürchtung, dass das Land durch die Integration so vieler Menschen überfordert ist und den Fiskus auf Jahrzehnte belasten wird. Diese Sorgen wollen viele Ökonomen den Menschen nehmen, und haben zuletzt in Prognosen und Szenarien die Folgewirkungen des Flüchtlingsstroms abgeschätzt – mit allerdings unterschiedlicher Grundtonalität.Das DIW etwa klingt geradezu euphorisch, verweist – notwendige Sozial- und Steuerreformen vorausgesetzt – auf eine zügige Integration der Menschen, weil diese vergleichsweise jung seien und leistungsbereit. “Die gegenwärtige Diskussion um Flüchtlinge fokussiert sich meist viel zu sehr auf die Kosten, die der Staat aufwenden muss”, kritisiert DIW-Chef Fratzscher. “Das ist viel zu kurz gedacht!” Nach den DIW-Berechnungen bringt ein Flüchtling dem Staat bereits nach sieben Jahren Geld, im schlimmsten Fall in zehn Jahren. Keynesianischer FaktorAllerdings setzt das DIW bei seinen Berechnungen noch auf einen weiteren Faktor, den es seiner keynesianischen Grundhaltung entsprechend überaus optimistisch ansetzt: der ökonomische Multiplikator von Staatsausgaben. Die durch die Unterbringung, Versorgung und Integration anfallenden Kosten haben ihrerseits ja eine positive Wirkung auf die Wirtschaft. Würde man hier etwas zurückhaltender prognostizieren als das DIW, sähe die Rechnung schon weniger günstig aus.Dann käme man der Abschätzung der Allianz-Volkswirte näher. Sie unterstellen in ihrer Projektion zunächst nicht, dass die Politik große sozialpolitische Änderungen vornimmt. DIW-Chef Fratzscher setzt dagegen eine “massive Umschichtung” staatlicher Ausgaben voraus, stellt das Ehegattensplitting ebenso zur Disposition wie die Verteilung des Kindergelds. Kosten-Nutzen-KalkülDie Allianz-Ökonomen zeigen sich vor allem skeptisch, was die Erfolgswahrscheinlichkeit der Flüchtlinge anbelangt, in den Arbeitsmarkt integriert zu werden. Sie orientieren sich dabei an den Angaben des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB). Danach verfügen fünf Jahre nach dem Zuzug nur rund 50 % der erwerbsfähigen Flüchtlinge über eine Beschäftigung, und auch nach zehn Jahren sind es erst 60 %. Das räumt das DIW durchaus ein, ist am langen Ende aber optimistischer. Beide haben indes noch nicht in Rechnung gestellt, inwieweit sich die Kosten-Nutzen-Kalkulationen verändern, wenn der Familiennachzug vollzogen wird.Dann gibt es noch eine Reihe von Volkswirten, und dazu zählt auch die jüngste Wirtschaftsprognose der EU-Kommission, die sich fast ausschließlich auf die makroökonomischen Eckpunkte konzentrieren und diese schlicht extrapolieren. Die Deutsche Bank etwa stellt vor allem darauf ab, dass Flüchtlinge unsere demografischen Probleme lindern. Denn ohne Zuwanderung würde das Wirtschaftswachstum in den nächsten zehn Jahren von derzeit im Schnitt etwa 1,5 % auf 0,5 % fallen, rechnen sie vor. Die Stabilität der sozialen Sicherungssysteme, insbesondere das umlagefinanzierte Rentensystem, würde auf die Probe gestellt.Auch die Deutsche-Bank-Ökonomen wissen natürlich, dass die Flüchtlinge nur dann demografisch positiv wirken, wenn sie erfolgreich in den Arbeitsmarkt integriert werden. Sie sprechen deshalb auch von einer “Herkulesaufgabe”. Ähnliche Einschätzungen findet man in den Flüchtlingsstudien der Citibank und der HSBC. Jörn Quitzau von der Berenberg Bank verweist indes auf die unpassende Qualifikationsstruktur der Migranten: “Hoffnungen, die aktuelle Flüchtlingswelle könnte die wirtschaftlichen Folgen des demografischen Problems in Deutschland nennenswert lösen, werden sich wohl als Illusion erweisen”, sagt er. Große StreubreiteEines müssen aber alle Ökonomen einräumen: Die Kalkulationen haben – je nachdem, welche Annahmen man trifft etwa über Flüchtlingszahlen und Qualifikationsstruktur und welchen ideologischen Bias man einfließen lässt – eine so große Streubreite, dass auch das Gegenteil dessen herauskommen kann, was man als Fazit verkündet.Zudem: Ob die Politik tatsächlich die nötigen Weichenstellungen vornimmt, die eine zügigere und erfolgreichere Integration ermöglichen, darf bezweifelt werden. Denn die von Ökonomen geforderten politischen Entscheidungen rühren an politischen Heiligtümern wie dem Mindestlohn und den Hartz-IV-Sätzen oder dem Ehegattensplitting und dem Kindergeld. Darüber hinaus wird eine (gelungene) Integration der Migranten in den Arbeitsmarkt für Verdrängungseffekte sorgen, was Unmut auslösen dürfte. Um nach dem Kontrollverlust der ersten Monate der Flüchtlingswelle wieder das Vertrauen in der Bevölkerung herzustellen, darf die Politik das nicht verschweigen oder vernebeln.Deutschland kann sich allerdings glücklich schätzen, dass der Flüchtlingsstrom erst jetzt anrollt, da die Staatsfinanzen geordnet sind und der Arbeitsmarkt aufnahmefähig ist. Das hilft, die Krise ins Positive zu wenden. Voraussetzung ist aber, dass die Politik sofort handelt, einen durchdachten, ambitionierten Integrationsplan verabschiedet und die nötigen Mittel bereitstellt. Das ist bisher nur ansatzweise geschehen. Auch die Wirtschaft muss – über die bisherigen Bekundungen hinaus – Flagge zeigen, den Staat unterstützen und ihrerseits eine nationale Initiative starten, um die Menschen schnell an den Arbeitsmarkt heranzuführen. Ansonsten droht eine Dauerkrise. Und dann würde das “dunkle Deutschland” die Themen diktieren.