IM INTERVIEW: MARCO FORTIS

"Die Stunde der Wahrheit kommt im September"

Der Wirtschaftsexperte sieht große Risiken für Italien und warnt Rom vor überzogenen Plänen

"Die Stunde der Wahrheit kommt im September"

Der angesehene Wirtschaftsexperte Marco Fortis sieht die Gefahr, dass Marktteilnehmer gegen Italien spekulieren könnten. Das Zurückdrehen der Arbeitsmarktreformen von Ex-Premier Matteo Renzi betrachtet er als schlechtes Signal.- Herr Professor Fortis, die Minister Matteo Salvini und Luigi Di Maio haben öffentlich erklärt, ihre Regierung sei nicht gewählt worden, um die Politik der Vorgängerregierungen fortzusetzen. Sie wollen die Flat Tax, das bedingungslose Grundeinkommen und die Rückgängigmachung der Rentenreform durchsetzen. Welche Folgen hätte das?Es gibt einen großen Unterschied zwischen öffentlichen Erklärungen und konkreten Handlungen. Die Versprechungen sind zum Großteil nicht realisierbar und unrealistisch, weil die Kosten sowie der Anstieg des Defizits und der Schulden enorm wären.- Aber ist es nicht die Schuld der Vorgängerregierungen, ein solches Erbe hinterlassen zu haben?Die Regierungen Renzi und Gentiloni haben die Finanzen stabilisiert, das Defizit auf etwa 2 % reduziert und ein gewisses Wachstum geschaffen. Unsere Steuerpolitik war in den vergangenen Jahren nicht weniger streng als die deutsche. Aber Italien hat schwierige Probleme aus der Vergangenheit geerbt.- Welche Konsequenzen hätte es, wenn die Regierung ihr Programm umsetzen würde?Die Märkte sind nicht bereit, eine zu lockere Politik hinzunehmen. Man kann die Reformen nicht zurückdrehen. Es gibt nur sehr geringe Flexibilitätsmargen von einigen Zehntelprozentpunkten – unter der Voraussetzung, dass die Reformen fortgesetzt werden.- Aber hat die Regierung das verstanden nach den Ereignissen vom Mai, als die Risikoaufschläge so stark angestiegen sind?Wir haben eine Regierung, die aus drei Gruppen besteht: der Lega, dem Movimento 5 Stelle und Fachleuten wie Finanzminister Giovanni Tria. Zwei dieser Gruppen machen weiter unrealisierbare Versprechungen. Tria ist der Stabilitätsgarant – auch gegenüber den Märkten.- Wie wird der Wettbewerb zwischen diesen Gruppen ausgehen?Das ist wie ein Pokerspiel, das schlecht ausgehen kann. Es besteht das Risiko, dass die Märkte das Vertrauen verlieren. Und das ist ein enormes Risiko für Italien.- Das neue Gesetz, das die Arbeitsmarktreform von Matteo Renzi teilweise zurückdreht, ist eine konkrete Handlung. Wie beurteilen Sie dieses Gesetz?Es handelt sich dabei um eine ideologische Schlacht gegen befristete Arbeitsverträge. Das Gesetz widerspricht nicht nur der Logik eines Arbeitsmarktes, in dem sich Angebot und Nachfrage in einer Phase des Wachstums in den dynamischen Wirtschaftssektoren ausgleichen, sondern es steht auch in Widerspruch zu den Zahlen.- Was heißt das?Nach Eurostat-Zahlen gab es im vergangenen Jahr 2,7 Millionen Verträge dieser Art in Italien, viel weniger als in Frankreich oder Spanien. Das entspricht 15,5 % aller Verträge und ist – mit Ausnahme Deutschlands – im Vergleich zu anderen Ländern der niedrigste Wert. Dieses Gesetz gefährdet die Schaffung von Jobs und den Aufschwung und ist ein sehr schlechtes Signal gegenüber den Investoren und der EU-Kommission. Der Tourismus und die Landwirtschaft sind stark gewachsen und haben sehr von dieser Flexibilität profitiert. Das gilt auch für die junge Generation. Ich glaube, das ist ein Eigentor und erzeugt auch Spannungen innerhalb der Regierung. Viele Vertreter der Lega sind mit dieser Maßnahme nicht einverstanden.- Warum besteht die Regierung dann darauf?Weil dieses Gesetz 5-Stelle-Chef Di Maio dabei hilft, den Eintritt seiner Bewegung in die Regierung zu rechtfertigen. Das Gesetz wird den Arbeitsmarkt lähmen. Italien hat seit 2014 etwa 1,2 Millionen neue Arbeitsplätze geschaffen. Die Hälfte davon waren befristete Arbeitsverhältnisse. Das lag am Jobs Act Renzis, aber auch am wirtschaftlichen Aufschwung. Wir können es uns nicht leisten, diese Jobs zu verlieren.- Es wird über einen Rücktritt Trias spekuliert. Premier Giuseppe Conte bekannte sich öffentlich zu ihm.Würde Tria zurücktreten, würde der Spread sofort stark steigen, und das wäre eine Katastrophe. Tria versucht, in Brüssel mehr Flexibilität zu erreichen. Das sind die einzigen Handlungsmargen, die wir haben.- Was passiert, wenn Tria bleibt?Dann kommt die Stunde der Wahrheit im September – wenn die Regierung den Haushalt für 2019 vorstellt. Dann gibt es echte Zahlen. Das Risiko ist also enorm. Wir müssen zeigen, dass wir verantwortlich handeln – gegenüber Italien, aber auch Europa. Wir können uns keine Unsicherheit erlauben. —-Das Interview führte Gerhard Bläske.