Eine Prise Kapitalismus für Südamerika
Von Andreas Fink, Buenos Aires
Nach mehr als sechs Jahrzehnten Planwirtschaft hat Kubas Regierung erkannt, was ihr Kommunismus braucht: mehr Kapitalismus! Anfang August erließen die Machthaber in Havanna ein Gesetz, das die Gründung kleiner und mittlerer Unternehmen (KMU) formell erlaubt.
Dieser Schritt erging knapp einen Monat nachdem Tausende Kubaner spontan auf die Straße gegangen waren, um Stromabschaltungen, Versorgungsmängel und Hunger anzuprangern. Inmitten des bislang schwersten Ausbruchs des Coronavirus erlebte die Insel die größten Demonstrationen seit der Revolution. Letztere hatte Fidel Castro 1959 an die Macht gebracht und den Grundstein für die marxistisch-leninistische Planwirtschaft gelegt, die zeitweise schlecht funktionierte, zumeist aber noch schlechter.
Das von Urlaubern eingeschleppte Coronavirus, ausbleibende Tourismuseinnahmen, die nachlassende Bruderhilfe Venezuelas und die Wiedereinführung der Sanktionen durch die Trump-Administration in den USA bewirkten die schlimmste Kontraktion seit der sogenannten „Sonderperiode“ in den 1990er Jahren. Um 11% schrumpfte 2020 die Wirtschaft.
Aber Kubas größtes Problem kommt nicht von außen: Nach sechs Jahrzehnten sozialistischer Zentralisierung produziert das Land immer noch nicht genug, um seine Bevölkerung zu ernähren. Landwirte können bislang ihre Ernten nicht frei anbauen und verkaufen. Fischer dürfen keinen Fang feilhalten. Alles plant – oder verplant – der Staat.
Das soll sich nun zumindest teilweise ändern. Die Regierung des Präsidenten und seit Februar auch Parteichefs Miguel Díaz-Canel hat etwa 2000 Berufsfelder für Selbständige formell geöffnet, die Klein- und Mittelbetriebe aufbauen dürfen. Tatsächlich betätigen sich bereits etwa 600000 Kubaner in der Privatwirtschaft, was etwa 13% aller Erwerbstätigen entspricht. Doch bislang fehlte dafür eine Rechtsgrundlage. Diese hat der Staatsrat nun erlassen.
Alles muss sich ändern, damit alles bleibt, wie es ist. Diesen Leitsatz aus Tomasi di Lampedusas „Leopard“ wendet längst auch Díaz-Canels engster Verbündeter an, um sein Staatswesen auf sozialistischem Schlingerkurs zu halten. Seitdem die US-Regierung 2019 massive Sanktionen gegen Venezuelas Finanz- und die Ölwirtschaft verhängt hatte, betraute Nicolás Maduro immer mehr private Unternehmen mit Aufgaben, die – nach einer Serie massiver Nationalisierungen durch Maduros Vorgänger und Mentor Hugo Chávez – Staatsfirmen ausführen sollten, aber nicht konnten. Die Privatisierungen begannen im Agrarbereich, wo ein fataler Mix aus Kollektivierung, Preisvorgaben und Korruption die Lebensmittelproduktion des überaus fruchtbaren Landes fast zum Erliegen gebracht hatte. Ende 2018 schaffte der Staatschef per Dekret eine große Zahl von Importzöllen ab. Obwohl diese Liberalisierung nur ein Jahr lang gelten sollte, wurde sie mehrfach verlängert und wurde zum Grundstein für ein Handelsnetz auf Dollar-Basis. Obwohl sich nur ein kleiner Teil die zumeist aus Florida eingeführten Markenwaren von Nutella bis Nintendo leisten konnte, formierte sich zumindest in der Hauptstadt Caracas ein reges Handelsleben, das einigen Familien nach Jahren totaler Depression 2019 ein paar Weihnachtseinkäufe ermöglichte. Der Importboom – und der weiterhin dramatische Verfall der Landeswährung Bolivar – bewirkten, dass sich die bolivianische Republik immer weiter dollarisierte. Weil die venezolanischen Geldscheine kaum noch Wert besitzen, zahlen die Bürger heute entweder per Handy – oder dem Greenback.
Anfang August verkündete Nicolás Maduro eine neue Währungsreform, die dritte des Chávismo. Im ersten Anlauf 2008 wurden dem Bolivar drei Nullen gestrichen, 2018 waren es fünf, und nun soll er weitere sechs Nullen abgeben. Dass die nun als „Bolivar digital“ vorgestellte neue Währung stabiler sein wird als der bisherige „souveräne Bolivar“, glauben die wenigsten.
Der Internationale Währungsfonds (IWF) schätzt, dass die Inflation in Bolivares in diesem Jahr 5500% betragen wird. Das wäre immer noch Weltrekord, aber ein deutlicher Rückgang gegenüber den Jahren 2018 und 2019. Die meisten Experten erklären den Rückgang mit der schleichenden Dollarisierung des Landes. Und der kleinen Prise Kapitalismus.