Erneute Debatten um deutsche Energieversorgung
ahe Berlin
Angesichts der aktuellen Energiekrise werden die geplanten Ausstiegsdaten für Atom- und Kohlestrom in Deutschland erneut in Frage gestellt. Für den Präsidenten des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI), Siegfried Russwurm, ist auch bei der auf Mitte April verschobenen Stilllegung der letzten Kernkraftwerke das letzte Wort noch nicht gesprochen: „Wir sehen ja aktuell, wie dringend wir jede Kilowattstunde Strom benötigen, gerade in den sonnen- und windarmen Wintermonaten“, sagte Russwurm der Deutschen Presse-Agentur. Den europäischen Nachbarn sei es zudem schwer zu vermitteln, in der gegebenen Mangellage sichere Kraftwerke abzuschalten und gleichzeitig Solidarität einzufordern.
In der Ampel-Koalition in Berlin hat zuletzt auch die FDP immer wieder eine weitere Laufzeitverlängerung gefordert. Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD) kritisierte dies: „Wenn wir jetzt neue Brennstäbe kaufen würden, laufen die alten Kernkraftwerke womöglich noch 20 Jahre“, sagte sie der „Neuen Osnabrücker Zeitung“. Die Risiken seien hoch, wie auch die massiven Probleme in Frankreich zeigten.
Auch FDP-Chef und Bundesfinanzminister Christian Lindner hatte sich in den vergangenen Tagen wiederholt in die Energiedebatte eingeschaltet. So hatte er auch im Interview der Börsen-Zeitung (vgl. BZ vom 31.12.2022) für einen Start von Fracking in Deutschland geworben, um heimische Gasvorkommen zu nutzen: Diese trügen zur Unabhängigkeit bei und reduzierten das Preisniveau, sagte er. „Wir haben uns diesem unbequemen Thema lang nicht stellen wollen, weil wir sehr günstig von den Weltmärkten versorgt wurden.“ Fracking solle in Deutschland rechtlich möglich gemacht werden. Privatunternehmen sollten dann entscheiden, ob sie hier einen Markt sehen.
Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) will noch in dieser Woche nach Oslo reisen, um in Gesprächen mit der norwegischen Regierung über einen Ausbau der bilateralen Energiepartnerschaft zu reden. Konkret soll es unter anderem um Wasserstofflieferungen, die Carbon-Capture-and-Storage- (CCS)-Technologie zur CO2-Verpressung sowie um die Sicherheit der Energieinfrastruktur gehen.
Am Wochenende hatte Habeck bereits einen auf 2030 vorgezogenen Kohleausstieg auch im Osten Deutschlands ins Spiel gebracht – anstatt einer Stilllegung der letzten Kohlemeiler erst im Jahr 2038, wie derzeit laut Gesetz vorgesehen. Dies müsse aber im Konsens vereinbart werden, sagte der Grünen-Politiker zu dpa. In Nordrhein-Westfalen habe es einen weitgehenden gesellschaftlichen Konsens für einen vorgezogenen Kohleausstieg 2030 gegeben. „In Ostdeutschland ist die Skepsis deutlich größer“, räumte Habeck ein. Eine Verstromung von Kohlekraft nach 2030 rechnet sich mit dem auf EU-Ebene jetzt noch einmal nachgeschärften Emissionshandel ökonomisch auch gar nicht mehr.