Ethikrat redet Politik ins Gewissen

Experten fordern Debatte über Exitstrategie - Spahn warnt vor verfrühtem Ende der Kontaktsperren

Ethikrat redet Politik ins Gewissen

Kurz vor den Ostertagen warnen mehrere Politiker vor einer verfrühten Lockerung der Auflagen in der Corona-Pandemie. Erste Schritte zur Öffnung im Ausland treiben hierzulande die Diskussion über die Exitstrategie an. Der Ethikrat dringt auf eine offene Debatte. Das Frühjahrsgutachten sagt eine Rezession voraus.wf Berlin – “Die Lage ist nach wie vor ernst.” So hat Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) vor voreiligen Schlüssen aus der sinkenden Zahl von Neuinfektionen mit dem Coronavirus gewarnt. “Wir dürfen uns nicht in falscher Sicherheit wiegen”, machte Spahn nach einer Sitzung mit der baden-württembergischen Landesregierung in Stuttgart deutlich. Die Ministerpräsidenten der am schwersten von der Pandemie betroffenen Länder Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg und Bayern – Armin Laschet, Winfried Kretschmann und Markus Söder – riefen die Bevölkerung auf, auch über die Ostertage mit Disziplin Abstand zu wahren. “Umso konsequenter wir jetzt sind, auch über Ostern, desto eher können wir über eine schrittweise Rückkehr zur Normalität nachdenken”, sagte Spahn.Die Bundesregierung und die Ministerpräsidenten wollen indessen erst nach Ostern über das weitere Vorgehen beraten. An den Beschränkungen soll sich bis 19. April nichts ändern. Darauf hatten sich Bund und Länder verständigt. Regierungen in Nachbarländern wie Österreich und Norwegen haben inzwischen eine schrittweise Öffnung angekündigt. Infiziertenzahlen steigen Die Bundesregierung und die Landesregierungen lehnen aber öffentliche Gedankenspiele über den Ausstieg aus den Beschränkungen zur Eindämmung der Krise ab. Sie treibt die Sorge um, dass sie beim Wiederaufflammen der Infektion das Rad zurückdrehen müssen. Laut der Statistik der Johns-Hopkins-Universität ist die Zahl der Infizierten hierzulande über die Marke von 100 000 gestiegen (siehe Grafik). Dem Robert-Koch-Institut (RKI) zufolge, das bei der Statistik etwas hinterherhinkt, waren am Dienstag 99 225 Menschen mit dem Virus infiziert, 3 834 mehr als am Vortag. Damit verlangsamt sich der Zuwachs. 1 607 Menschen sind an dem Virus gestorben. Rund 30 600 Menschen haben die Infektion überstanden, schätzt das RKI. “Von einer Entspannung kann noch nicht ausgegangen werden”, sagte Präsident Lothar Wieler laut Nachrichtenagentur Reuters. Die Ansteckungsrate, die zuletzt auf 1 gesunken war, ist wieder gestiegen. Demnach steckte ein Infizierter zuletzt statistisch zwischen 1,2 und 1,5 weitere Menschen an. Ein Wert unter 1 gilt als Indikator, um Kontaktsperren zu lockern und die Wirtschaft wieder anlaufen zu lassen.Der deutsche Ethikrat plädierte für eine offene Kommunikationsstrategie und rief die Politik zu einer Debatte über die Exitstrategie aus dem Stillstand des öffentlichen Lebens auf. “Entscheidend ist, welche Hoffnungsbilder in den Blick genommen werden und wie sie kommuniziert werden”, sagte der Vorsitzende des Ethikrats, Peter Dabrock, vor der Presse in Berlin. Für die Lockerung sei es zu früh, nicht aber für die Debatte. Die Kommunikationsstrategie vieler politisch Verantwortlicher zu den “Öffnungsperspektiven” hält der Ethikrat für “verbesserungsbedürftig”. Dabrock rief dazu auf, Menschen mit unterschiedlichen Kompetenzen, aber auch Interessen zu Wort kommen zu lassen. “Es darf, ja es muss einen Ideenwettbewerb der besten Vorschläge geben.” Rezession in SichtDie Wirtschaftsforschungsinstitute erwarten für 2020 einen Rückgang des Bruttoinlandsprodukts (BIP) um 4,2 %, berichtete die Nachrichtenagentur Reuters vorab. Sie sind etwas optimistischer als Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU), der eine schärfere Rezession als 2009 erwartet. Damals fiel das BIP um 5,7 %. 2021 soll das BIP dem Frühjahrsgutachten zufolge um 5,8 % steigen. Altmaier bekräftigte in Berlin seine Ankündigung vom Vortag, die Regierung werde die Coronahilfen weiter nachbessern. Konkreter wurde er auch gestern nicht. Bislang unerhört blieben Rufe der Wirtschaft, über Steuererleichterungen wie eine umfassendere Verlustverrechnung Liquidität in den Unternehmen zu schaffen (vgl. BZ vom 1. April). Zudem hat Altmaier wiederholt ein “Fitnessprogramm” für die Wirtschaft nach der Krise gefordert, das noch zu Debatten mit dem Koalitionspartner SPD führen dürfte.