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Europas Wiedervereinigung

Die EU und die Staaten der Eurozone drängen Berlin zur Übernahme der Führungsrolle

Europas Wiedervereinigung

Von Detlef Fechtner, BrüsselUm die Eurokraten in Brüssel ranken sich bekanntlich viele Mythen und Revolvergeschichten. Die EU-Kommission, so haben es in den vorigen Jahren mehr oder weniger seriöse Zeitungen gemeldet, wolle Kellnerinnen verbieten, Dirndl zu tragen, um sie vor zu viel Sonnenstrahlen zu bewahren. Oder wolle Reißverschlüsse in Hosen untersagen, um Verletzungen vorzubeugen.In den vergangenen zwölf Monaten lautete die beliebteste Wanderlegende: Brüssel will Deutschland verbieten, Exportüberschüsse zu erzielen, um – ja, warum eigentlich? EU-Kommissar Olli Rehn und seine Brüsseler Mitstreiter haben seit Sommer gebetsmühlenhaft beteuert, es gehe ihnen natürlich nicht darum, die Deutschen wegen ihrer Exportstärke und ihrer Wettbewerbsfähigkeit zu schelten. Sondern auszuloten, ob die größte Volkswirtschaft Europas nicht noch mehr tun könne, um die Binnennachfrage zu beleben.Dass die EU-Behörde zur Klärung dieser Frage im Herbst sogar eine vertiefte Prüfung gestartet hat, kann nicht wirklich überraschen. Schließlich ruhen die Hoffnungen der EU-Volkswirte in hohem Maße darauf, dass Deutschland die Rolle der Zugmaschine übernimmt und die benachbarten Volkswirtschaften aus der Krise schleppt. Da bietet es sich an, in Studien auszuloten, ob die Lokomotive vielleicht noch zusätzliche Zugkraft freisetzen kann, von der die EU-Partner profitieren. Anders gesagt: Die EU schielt auf Deutschland mangels Alternativen. Denn in fast allen anderen Staaten sind die Wachstumspotenziale arg beschränkt.Hinzu kommt, dass fast überall die haushaltspolitischen Möglichkeiten ausgereizt oder überreizt sind. Auch 2014 werden viele Regierungen die Defizitgrenze von 3 % der Wirtschaftskraft nicht einhalten, darunter so bedeutende Länder wie Großbritannien, Frankreich oder Spanien. Im Grunde wird 2014 nur zwei der 28 EU-Staaten ein Haushaltsüberschuss zugetraut: Deutschland und Polen. Wenn man berücksichtigt, dass Polen dieses Plus nur einer gigantischen Umbuchung von Pensionen verdankt und bereits 2015 wieder eine hohe Neuverschuldung ausweisen wird, ist klar, dass aktuell nur ein EU-Land überhaupt haushaltspolitischen Spielraum hat. Ob es klug ist, den auch zu nutzen, steht auf einem anderen Blatt.Deutschland also soll als Wachstumslokomotive dafür sorgen, dass Europas Aufschwung nicht ein Auf ohne Schwung bleibt, sondern an Dynamik gewinnt. Mit anderen Worten: Deutschland soll dazu beitragen, dass die Wiedervereinigung Europas gelingt. Denn noch immer sind die Union und die Eurozone tief gespalten. In allen Euro-Südländern (außer Malta) ist die Wirtschaftsleistung 2013 erneut geschrumpft, in fast allen Nordländern (außer Niederlande und Finnland) ist das Bruttoinlandsprodukt gewachsen. Und Frankreich pendelt an der Nulllinie. Alternativen fehlenDie “Wer-sonst-wenn-nicht-Deutschland-Frage” stellt sich allerdings nicht allein in Zusammenhang mit der wirtschaftlichen Ziehkraft, sondern auch der politischen Steuerung. Denn nicht nur bei der konjunkturellen Überwindung der Krise, sondern auch bei der politischen Übersetzung der Lehren in neue Formate wirtschaftspolitischer Koordinierung kommt Deutschland mangels Alternativen die zentrale Rolle zu.Frankreich ist zu sehr mit dem Kampf gegen den eigenen ökonomischen Absturz beschäftigt und wird von einer Regierung geführt, die nicht einmal im eigenen Land robuste Unterstützung genießt. Italiens Regierung muss sich mehr um die Selbstbehauptung in Misstrauensvoten kümmern als um eine europäische Führungsaufgabe. Spanien wird gerade erst den Status als Programmland los und ist deshalb auch nicht prädestiniert, sich an die Spitze zu stellen. Und Großbritannien ist sicherlich nicht nur angesichts des geplanten Referendums die allerletzte Adresse, die einem einfällt, wenn es um eine engere wirtschaftspolitische Integration der EU geht.Also: Deutschland. Und das passt auch inhaltlich. Denn Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble signalisiert, dass er sich für eine wirtschaftspolitische Abstimmung starkmachen will, die weit über das gegenwärtige Europäische Semester und über Two sowie Six Packs hinausgeht. Über einige Bausteine dieser engeren Verzahnung hat sich die EU bereits verständigt. Erstens, dass alle großen Banken einer gemeinsamen Aufsicht und einem einheitlichen Abwicklungsregime unterliegen sollen, um die Fragmentierung der Kreditmärkte aufzuheben. In anderen Worten: damit Firmen im Norden Italiens künftig nicht mehr höhere Finanzierungskosten haben als ihre nur wenige Kilometer entfernten Wettbewerber im Süden Österreichs. Angst vor der WahlZweitens, dass die EU-Kommission, die Europäische Investitionsbank und die Europäische Zentralbank einen umfangreichen Instrumentenkasten zur Verfügung stellen, um allfällige Standortschwächen zu überwinden. Ideen wie die Hebelung von Strukturfondskrediten, die Kopplung von Krediten an Banken an deren Kreditzusagen (Funding Lending Schemes) oder auch die vom EU-Gipfel bestätigten finanziellen Anreize für einzelne nationale Reformen (Vertragspartnerschaften) verfolgen das Ziel, dass Mittelständler wieder in ganz Europa an ausreichende Betriebskredite gelangen und nationale Arbeitsmärkte geöffnet werden.Und drittens, dass die EU und die Eurozone ihre Arbeitsstrukturen so anpassen, dass sich die EU-Regierungen enger und schneller untereinander abstimmen. Stichworte sind die Einführung eines hauptamtlichen Euro-Vorsitzes, die Verstetigung eigener Euro-Gipfel oder auch die Anpassung der Organisation im Europäischen Parlament an neue Realitäten, etwa durch einen eigenen Euroland-Ausschuss. Spielentscheidendes Jahr 20142014 sind – ganz anders als in den Jahren zuvor – keine großen neuen Gesetzesinitiativen zu erwarten, die diese drei Ziele vorantreiben. Schließlich ist die Gesetzgebungsmaschine durch die Neuwahl des EU-Parlaments und die Neubesetzung der EU-Kommission ausgebremst. Nichtsdestotrotz wird 2014 mit Blick auf die angestrebten Ziele spielentscheidend sein. Zum einen wegen des Ausgangs der Europawahlen. Ein Sieg der Protestwähler würde die wirtschaftspolitischen Integrationsvorhaben erheblich zurückwerfen. Zum anderen wegen der anstehenden Neubesetzung der europäischen Spitzenposten. Denn wenn die Posten der Präsidenten von Rat und EU-Kommission mit ambitionierten Europäern besetzt werden, die gleichzeitig über ausreichende Rückendeckung in ihrer heimischen Regierung verfügen, würden die Chancen für die angestrebte engere Koordinierung steigen. Auch hier kommt Berlin womöglich eine Schlüsselrolle zu – dann nämlich, wenn Kanzlerin Angela Merkel eine Kandidatur des Sozialdemokraten Martin Schulz für den Chefsessel in der EU-Kommission unterstützt.