EZB warnt vor Missbrauch der Pakt-Flexibilität

Wirtschaftsbericht: Kurzfristige "Reformkosten" taugen nicht als Argument für Defizitlockerungen

EZB warnt vor Missbrauch der Pakt-Flexibilität

Die Defizitvorgaben einiger Länder sind in der Vergangenheit immer weiter gelockert worden. Die EU-Kommission begründet diese “Flexibilisierung” mit den Kosten von Strukturreformen, die nicht aufs Defizit angerechnet werden dürften. Die EZB indes hält das Argument für fadenscheinig und warnt vor einem Verlust der Glaubwürdigkeit.Von Stephan Lorz, FrankfurtDie Europäische Zentralbank (EZB) hat die von der EU-Kommission gewährte Lockerung bei den Defizitvorgaben für einige Euro-Länder scharf kritisiert. Vor allem halten die Notenbankökonomen die als Begründung herangezogenen kurzfristigen “Reformkosten” für nicht stichhaltig. Allenfalls einige Spielarten von Rentenreformen hätten kurzfristig negative Folgen auf die Etatplanung, Strukturreformen im Allgemeinen dagegen wirkten sich kaum oder eher positive auf die Staatsfinanzen aus. Langfristig sei ohnehin insgesamt mit günstigen Effekten für die Staatsfinanzen zu rechnen, heißt es im neuen Wirtschaftsbericht. Eine über das nötige Maß hinaus eingeräumte Flexibilität sollte deshalb nur sehr eingeschränkt gewährt werden, damit die Nachhaltigkeit und Glaubwürdigkeit des Stabilitäts- und Wachstumspakts keinen Schaden erleide.Die Volte der EZB-Ökonomen richtet sich im Wesentlichen gegen die EU-Kommission, die zum Jahresanfang Italien und Frankreich trotz Verfehlungen gegen die Defizitregeln und über die bereits beschlossenen Anpassungsvorgaben hinaus erneut Aufschub gewährt und dies mit den versprochenen Reformmaßnahmen begründet hatte. Paris erhielt eine zweijährige erneute Lockerung. Rom wurde eingeräumt, um 0,4 Prozentpunkte vom bisherigen Defizitanpassungspfad abzuweichen. Debatte über “Austerität”Der Entscheidung der EU-Kommission ist eine heftige Debatte über die negativen Konjunkturwirkungen der “Austerität” vorausgegangen. Gerade wenn es der Wirtschaft schlecht gehe, müsse man Geld ausgeben können, hieß es. Paris und Rom beklagten zudem, dass die Sparpolitik sie an Investitionen und Reformen hindern würde. Die Befürworter der Konsolidierungspolitik führten dagegen an, dass die genannten Länder zu sehr auf Konsumausgaben setzten, mit den Investitionen an der falschen Stelle gespart hätten und Reformen überdies keine exorbitant hohen kurzfristigen Kosten nach sich ziehen würden.Letzteres hat die EZB nun in einer Studie analysiert und kommt zu dem Ergebnis, dass die Wirkungen von Strukturreformen auf die Etats zum einen nur schwer kalkulierbar seien, zum anderen kurzfristig sogar positiv ausfallen könnten. Einzig bei Rentenreformen, die den Aufbau einer privaten Altersvorsorge zum Ziel hätten, könnten die Staatsfinanzen von Anfang an unter Druck geraten.Explizit dafür gibt es seit der Paktreform 2005 ohnehin bereits Ausnahmen: Entsprechende Reformschritte sollten bei der Beurteilung der Haushalte im Zusammenhang mit dem Stabilitätspakt berücksichtigt werden, heißt es in der “Verordnung Nr. 1056/2005 über die Beschleunigung und Klärung des Verfahrens bei einem übermäßigen Defizit”. Aber schon damals, kritisiert die EZB, sei diese Ausnahme auf Strukturreformen insgesamt übertragen worden etwa im Falle Polens Anfang 2015 oder Litauens 2013.Um die kurzfristigen Budgetwirkungen von Reformen abschätzen zu können, haben die EZB-Volkswirte eine Reihe von Effekten untersucht etwa im Bereich von Arbeitsmarktreformen. Dabei zeigte sich, dass verstärkte Anreize zur Arbeitsaufnahme sich eher positiv in den Staatshaushalten niederschlagen. Und auch die in Deutschland zwischen 2003 und 2005 durchgeführten “Hartz-Reformen” haben sich nach Erkenntnissen der Notenbankökonomen nicht nur langfristig für die Staatsfinanzen bezahlt gemacht, sondern seien auch kurzfristig kaum auf die öffentlichen Budgets durchgeschlagen. Staatsfinanzen unter DruckReformen auf den Produktmärkten wirken sich nach den Erkenntnissen der Ökonomen im Zuge des erhöhten Wettbewerbs ebenfalls eher günstig auf die Staatsfinanzen aus. Und selbst bei Rentenreformen könnten der Fiskus und die Sozialkassen akut entlastet werden, wenn etwa allein das Renteneintrittsalter erhöht oder die Rentenhöhe verringert werde. Steuerreformen wiederum könnten ohnehin weitgehend aufkommensneutral konzipiert werden.Die mit dem Argument der “Reformkosten” gleichwohl gewährten Defizitlockerungen bergen nach Meinung der EZB daher nicht nur die Gefahr, dass die betreffenden Staaten auf eine günstigere wirtschaftliche Entwicklung verzichten, sondern dass es zu einem “Missbrauch” der Bestimmungen kommt, weil dem Druck einzelner Interessengruppen nachgegeben werde. Die von der Politik eingeräumte “Flexibilität” des Stabilitätspakts sollte daher ihrer Meinung nach “höchst vorsichtig” angewendet werden.