IM INTERVIEW: JOACHIM NAGEL

"Finanzmärkte sind keine Einbahnstraßen"

Der Bundesbankvorstand über den Ausverkauf an den Börsen, Chinas neue Rolle und das Deflationsgespenst

"Finanzmärkte sind keine Einbahnstraßen"

– Herr Nagel, der Börsencrash in China und Sorgen vor einer “harten Landung” der chinesischen Wirtschaft führen weltweit zu einem Ausverkauf an den Börsen und zu Turbulenzen an den Finanzmärkten, nicht zuletzt an den Rohstoffmärkten. Spielen die Märkte verrückt oder sind die sich darin spiegelnden Sorgen berechtigt?Die Kursanstiege in China in den vergangenen Jahren, gerade auch in den vergangenen zwölf Monaten, waren rasant. Teilweise gab es in einzelnen Marktsegmenten auch Übertreibungen. Finanzmärkte sind aber typischerweise keine Einbahnstraßen. Irgendwann gibt es eine Gegenbewegung. Nun gibt es eine neue realwirtschaftliche Einschätzung für China, weil sich die Wachstumsraten normalisieren. Das spiegelt sich in diesen Entwicklungen wider – und das hat weltweite Ausstrahleffekte, weil die internationalen Finanzmärkte inzwischen eng vernetzt sind.- Sie warnen also vor Panikstimmung und werten die Entwicklung ähnlich wie der Internationale Währungsfonds (IWF), der von einer neuen “notwendigen Anpassung” in China spricht?Diese Einschätzung teile ich völlig. Das, was wir jetzt bei China erleben, haben früher andere Länder erlebt. Ein gutes Beispiel für eine solch typische Entwicklung ist Japan. Da gab es in den 1980er Jahren erst rasantes Wachstum und dann eine Konsolidierung hin zu normalen Wachstumsraten. China ist jetzt in dem Kreis der Länder angekommen, bei denen sich zukünftig alles in normaleren Bahnen bewegen dürfte.- Und die Weltwirtschaft und die internationalen Investoren müssen einfach lernen, damit zu leben?China befindet sich in einer neuen Phase: Die Binnenwirtschaft spielt eine immer stärkere Rolle, die Märkte werden immer weiter geöffnet. China wird womöglich auch stärker ausländisches Kapital benötigen und anziehen. Die Rolle Chinas in der Weltwirtschaft verändert sich.- Sorgen, in China braue sich gerade die nächste globale Rezession oder Weltfinanzkrise zusammen, halten Sie aber für übertrieben?Die aktuellen Einbrüche sind ohne Frage stark. Letztlich kann auch niemand sagen, wann es eine Bodenbildung gibt oder ob es in der Phase der Konsolidierung – nach Übertreibungen nach oben – Übertreibungen in die andere Richtung gibt. Das ist auch nicht untypisch für Märkte, die lange Zeit nur eine Richtung kannten. China ist nun im Hier und Jetzt der internationalen Finanzmärkte angekommen. Es ist aber zu früh zu meinen, dass dort die nächste globale Finanzkrise aufzieht. Zudem: China wächst nicht mehr mit 10 %, sondern womöglich nur noch mit 6 %. Aber 6 % sind immer noch ein starkes Wachstum.- Und einige Beobachter verweisen zudem darauf, dass Chinas Regierung und Notenbank noch über reichlich Mittel verfügen, um die Lage zu stabilisieren.China ist wirtschaftlich stark genug, um im Notfall dagegenzuhalten, falls die Finanzmarktstabilität insgesamt in Gefahr gerät. So hat China in den vergangenen Jahren zum Beispiel enorme Währungsreserven aufgebaut. Die vergangenen Tage und Wochen haben auch gezeigt, dass China zum Handeln bereit ist, um etwa mit Ankaufprogrammen die Märkte zu stabilisieren.- Ist das denn auch richtig oder sollten sich die Verantwortlichen vor zu großen Markteingriffen hüten, weil sie mehr Schaden anrichten?Auch in anderen Volkswirtschaften gab es – wenn auch in anderem Zusammenhang – signifikante Eingriffe der Notenbanken.- Die Lage in China hat auch die Schwellenländer insgesamt wieder in den Fokus gerückt, und die dortigen Verwerfungen wecken zumal angesichts der sich abzeichnenden Zinswende in den USA teils böse Erinnerungen an 1994. Damals mündeten Turbulenzen in einigen Schwellenländern in der Asienkrise. Droht sich auch da Geschichte zu wiederholen?Ein solches Szenario sehe ich nicht. Viele Schwellenländer stehen heute viel besser da als vor 20 Jahren. Ihre gesamtwirtschaftlichen Daten sind besser, ihre Währungsreserven sind deutlich größer. Sie wissen auch viel besser, wie sie auf solche Situationen reagieren müssen. Der Vergleich mit der Situation vor 20 Jahren, vor der Asienkrise, hinkt also.- Besonders hoch her geht es an den Rohstoffmärkten. Der Ölpreis bricht erneut deutlich ein. Ist diese Talfahrt auch übertrieben?Am Ölmarkt spielen viele Faktoren eine Rolle. Neben der geringeren Nachfrage aus China dreht es sich da vor allem um die Angebotsseite: Die Entwicklung im Iran spielt eine Rolle, aber auch der Fracking-Boom in den USA. Es gibt also einige Sonderfaktoren, die dazu beitragen, dass die Preisbewegungen beim Öl noch signifikanter ausfallen als bei anderen Märkten.- Der erneute Verfall des Ölpreises und die Abkühlung in China werden auch die Inflationsraten weltweit wieder drücken. Teilweise kommen schon wieder Deflationssorgen auf – und Rufe nach den Zentralbanken gegenzusteuern.Ich war schon zur Jahreswende der Ansicht, dass das Schreckgespenst Deflation damals völlig überzeichnet worden ist. Die niedrigen und teilweise rückläufigen Inflationsraten gingen maßgeblich auf den Rückgang der Energiepreise zurück. So wird es auch dieses Mal sein. Entscheidend für die Zentralbanken müssen mögliche Zweitrundeneffekte sein. Die sieht man derzeit nicht, und deswegen kann man auch nicht von einer Deflation sprechen.—-Das Interview führte Mark Schrörs.