Forderungen nach neuer Rolle Deutschlands in der EU
Von Andreas Heitker, Brüssel
Fragt man Politiker aus den EU-Institutionen, welche Auswirkungen die Bundestagswahl und die anstehenden schwierigen Koalitionsverhandlungen auf die Brüsseler Gesetzgebungsprozesse haben, erhält man meist Allgemeinplätze zur Antwort: Irgendwo in der EU sei immer eine Wahl. Darauf könne man keine Rücksicht nehmen.
Das stimmt natürlich nur bedingt: Im Bereich der Bankenunion wird es keinen Zentimeter vorwärtsgehen, solange sich die neue Regierung in Berlin nicht dazu positioniert hat. Neue Gesetzesvorschläge in der Wirtschafts- und Finanzpolitik – ob zur Einlagensicherung oder zu den Haushaltsregeln – wird die EU-Kommission tunlichst vermeiden, wenn nicht klar ist, wie sich der mit Abstand größte und wichtigste Mitgliedstaat dazu voraussichtlich positionieren wird. Und ohne den Beitrag Berlins wird es auch in der EU-Klimagesetzgebung (Stichwort: Fit for 55) oder bei den geplanten neuen Digitalregeln kaum vorangehen können. Die Koalitionsverhandlungen entscheiden zugleich auch über wichtige Neubesetzungen in den EU-Gremien.
Deutschland müsse die Europapolitik innenpolitisch erheblich ernster nehmen, forderte deshalb am Montag auch die Europäische Bewegung Deutschland (EBD), ein überparteiliches Netzwerk, in dem sich mehr als 250 Interessengruppen aus Gesellschaft und Wirtschaft zusammengeschlossen haben. Europa müsse jetzt in den Sondierungsgesprächen und Koalitionsverhandlungen eine zentrale Rolle spielen – „da viele Herkulesaufgaben nur über den europäischen Lösungsweg bewältigt werden können“.
Dies ist beileibe keine Einzelmeinung – auch wenn die Europapolitik im Wahlkampf so gut wie keine Rolle gespielt hat. „Europa kommt seit Jahren in wichtigen politischen Fragen wie etwa der Migrations- oder der Außen- und Sicherheitspolitik nicht voran. Das muss sich schnell ändern“, betonte etwa die – ebenfalls überparteiliche – Europa-Union Deutschland, die sich mit ihren über 17000 Mitgliedern als die größte demokratisch organisierte und lokal verwurzelte Bürgerinitiative für Europa in Deutschland sieht. „Europa braucht ein handlungsfähiges Deutschland, das wieder eine proaktive Rolle im europäischen Integrationsprozess einnimmt.“
Auch wenn sich führende Vertreter der EU-Institutionen öffentlich nicht so äußern. Aber die Hoffnung, dass die neue Bundesregierung künftig wieder eine konstruktivere Rolle bei der europäischen Integration spielt und so etwas wie „Leadership“ zeigt, ist in Brüssel allgegenwärtig. „Die erste Aufgabe der neuen Regierung besteht darin, ihre Rolle und ihr Verhältnis zur EU zu ändern“, meint auch der paneuropäische Thinktank European Council on Foreign Relations (ECFR). Dazu gehöre es auch, die deutschen Bürger von dem Richtungswechsel zu überzeugen. Aber klar sei: „Berlin kann es sich nicht mehr leisten, nur den Status quo zu verwalten.“ Von der China-Politik bis hin zum Streit um Rechtsstaatlichkeit – überall werden deutsche Ansagen verlangt. Hinzu kommt die bereits laufende Konferenz zur Zukunft der EU: Eine deutsche Regierungsposition zu dieser Reformdebatte fehlt noch immer.
Zumindest bei den Grünen und beim Wahlsieger SPD stoßen die Forderungen nach einer Neujustierung der EU-Politik auf offene Ohren: Udo Bullmann, der Europa-Beauftragte der Sozialdemokraten, bringt es auf den Punkt: „Dieses Wahlergebnis eröffnet die Möglichkeit, dass Deutschland die Rolle des Nein-Sagers und Bremsers bei der europäischen Zusammenarbeit ein für alle Mal überwindet.“
Und der grüne EU-Abgeordnete Sven Giegold, der ebenfalls in den Koalitionsgesprächen mitmischen wird, stellte klar: Die neue Regierung müsse „ein mutiges Angebot für die weitere Integration Europas“ unterbreiten. Dies werde auch seinen Preis haben, sagt Giegold und rechnet auch deshalb mit Konflikten mit der EU-skeptischeren FDP.
Die Liberalen wiederum sehen sich zu Unrecht als neue Bremser an den Pranger gestellt. „Jene, die eine französische Angst heraufbeschwören gegenüber einer FDP in Regierungsverantwortung, denen sei versichert: Auf europäischer Ebene arbeiten FDP und Macrons Partei längst erfolgreich an einem Tisch“, so die EU-Abgeordnete Nicola Beer. Auch die FDP wolle die „europapolitische Lücke“ des Wahlkampfes schließen.