IM BLICKFELD

Fragiles Schweizer Jobwunder

Von Daniel Zulauf, Zürich Börsen-Zeitung, 18.1.2017 Finanzkrise, Euro-Krise und zwei Frankenschocks in Folge - auch die Schweizer Wirtschaft kämpft mit schwierigen Verhältnissen. Nur: offensichtlich sind die Probleme kaum. Die beispiellose...

Fragiles Schweizer Jobwunder

Von Daniel Zulauf, ZürichFinanzkrise, Euro-Krise und zwei Frankenschocks in Folge – auch die Schweizer Wirtschaft kämpft mit schwierigen Verhältnissen. Nur: offensichtlich sind die Probleme kaum. Die beispiellose Aneinanderreihung von Krisen hat den Arbeitsmarkt nicht wirklich aus den Fugen gerissen. Zwar ist die Arbeitslosenquote im Dezember auf 3,5 % gestiegen, was für schweizerische Verhältnisse im historischen Kontext ein ziemlich hoher Wert ist. Doch aussagekräftiger als der stark saisonal beeinflusste Dezemberwert ist die durchschnittliche Quote für das Gesamtjahr, und diese sieht mit 3,3 % doch besser aus. 2016 war kein JubeljahrDennoch sollte man die Statistik auch lesen, wie sie ist: 2015 hatte die Arbeitslosenquote noch bei 3,2 % gelegen. Hinter der leichten prozentualen Zunahme stehen 6 500 Menschen. Das klingt auch im helvetischen Kontext nicht hoch, wenn man sie ins Verhältnis zu den mehr als 4 Millionen Erwerbspersonen im Land setzt. Ähnliches gilt auch für die 24 000 Personen, die seit über einem Jahr bei einem regionalen Arbeitsvermittlungszentrum (RAV) als arbeitslos gemeldet sind. Doch die Zahl liegt deutlich über dem Durchschnitt früherer Perioden und ist 2016 um 11 % gewachsen. Die Arbeitslosigkeit nimmt auch unter den älteren Arbeitnehmenden (50 plus) deutlich zu. Der Anstieg betrug 8 % im vergangenen Jahr, wenn auch die Arbeitslosigkeit in dieser Gruppe immer noch unterdurchschnittlich ist.2016 war für die arbeitssuchenden Schweizerinnen und Schweizer kein Jubeljahr. Die Situation hat sich durchweg verschlechtert. Nimmt man die international vergleichbare Erwerbslosenquote der Internationalen Organisation für Arbeit (ILO) zum Maßstab, dann ist sie mit 4,8 % aktuell auch gar nicht so niedrig. Diese Feststellung kontrastiert doch auffallend stark mit der Situation in der EU. Während die Arbeitslosigkeit in der EU seit 2013 deutlich rückläufig ist, nimmt sie in der Schweiz zu.Darüber wird sich in der Eidgenossenschaft aber auch kaum jemand wundern. Die Wirtschaft hatte in den vergangen fünf Jahren zwei Frankenschocks zu überwinden. Selbst die im Umgang mit der chronisch teuren heimischen Valuta erprobten Exporteure sind an ihre Grenzen gestoßen. Aus dieser Perspektive kann man die Situation am Arbeitsmarkt deshalb immer noch als positiv bewerten. So sieht es auch Boris Zürcher, Leiter der Direktion für Arbeit beim Staatssekretariat für Wirtschaft. Er bescheinigt dem Schweizer Arbeitsmarkt eine beachtliche Widerstandskraft.Die wachsende gesamtwirtschaftliche Bedeutung der Dienstleistungssektoren und die damit verbundene Zunahme der Beschäftigung in staatsnahen Bereichen wie der Verwaltung und im Gesundheits- und Bildungswesen wirkten sich glättend auf die Beschäftigungseffekte der Konjunkturzyklen aus, sagt Zürcher. Zudem habe die Zuwanderung aus den EU- und Efta-Ländern ebenfalls eine stabilisierende Pufferfunktion entfaltet. Ferner erweise sich der hohe Bildungsstand der Bevölkerung als hilfreich bei der Anpassung an den Strukturwandel und schließlich sei auch die Arbeitsmarktpolitik mit den Arbeitsvermittlungszentren darauf ausgerichtet, die Stellensuchenden zu unterstützen.Dieses positive Gesamtbild weist allerdings auch diverse Risse auf. So ging etwa die Zunahme des Anteils der staatsnahen Dienstleistungen an der Gesamtbeschäftigung von 18 % auf 25 % in den vergangen 25 Jahren Großteils auf Kosten des verarbeitenden Gewerbes. Dessen Anteil an der Gesamtbeschäftigung ist in der gleichen Zeit von 20 % auf nur mehr knapp 14 % gesunken. Das verarbeitende Gewerbe ist ein zentraler Pfeiler der Schweizer Exportwirtschaft. Zwar trifft es zu, dass gleichzeitig auch deren Produktivität stark zugenommen hat. Der Anteil der Exportbranchen an der gesamten Wertschöpfung ist damit nicht gesunken. Doch dahinter stehen Verschiebungen, die den seit Jahren anhaltenden Siegeszug der Pharmaindustrie verbergen. Deren Produktivität ist in der Schweizer Wirtschaft absolut unerreicht. Das ist gut und beunruhigend zugleich. Bestimmend für den Wohlstand der Schweiz ist der Erfolg der Exportwirtschaft. So gesehen kann man die zunehmende Konzentration auf einen Sektor auch als größeres Risiko sehen.Die Zuwanderung ist deutlich rückläufig. 2013 waren noch über 90 000 Personen netto in der Schweiz ansässig geworden. Inzwischen sind es ein Drittel weniger. Der Rückgang kommt allein durch die geringere Zuwanderung von Personen aus den EU/Efta-Ländern zustande (von 71 000 im Jahr 2013 auf weniger als 40 000 im Jahr 2016, was mit der wirtschaftlichen Aufhellung in der EU zu erklären ist und Zürchers Pufferargument bestätigt. Aber die Erfahrung hat gezeigt, dass Zuwanderung insbesondere für ältere inländische Arbeitnehmer ein zusätzliches – und kein geringes – Konkurrenzproblem darstellt. Vor diesem Hintergrund darf man gespannt sein auf den von der Regierung noch auszuarbeitenden Vorschlag für einen Inländervorrang, mit dem die Schweiz eine strenge Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative zu umgehen und damit einen handfesten Streit mit der EU zu vermeiden hofft.Auch das von Arbeitsökonom Zürcher herausgestrichene Element des hohen Bildungsstandes ist keine zuverlässige Versicherung gegen Arbeitslosigkeit. Das zeigt allein schon der Umstand, dass zwei Drittel der 159 372 im Dezember in der Schweiz registrieren Arbeitslosen als “Fachkräfte” oder gar als “Kader” gelten. Auch das ist mitunter eine Folge des Strukturwandels, denn es ist anzunehmen, dass der Bedarf für bestimmte Berufsbilder oder Fähigkeiten vor allem im Bereich der Industrie als Folge des doppelten Frankenschocks schlagartig abgenommen hat oder bisweilen vielleicht sogar ganz verschwunden ist.Vor diesem Hintergrund ist es kaum Zufall, dass die Angst vor Arbeitslosigkeit auch im aktuellen Sorgenbarometer der Credit Suisse wieder zuoberst steht. Allerdings war dies in den vergangen vierzig Jahren sehr oft der Fall, was auch damit zu tun haben dürfte, dass sich die Schweizer besonders stark über die Arbeit identifizieren.