Frühindikator Schifffahrt
Die enge Verknüpfung zwischen Weltwirtschaftswachstum und Welthandel wurde Ende März überdeutlich vor Augen geführt, als ein einziges Containerschiff, das im Suezkanal auf Grund gelaufen war, die globalen Lieferketten durcheinanderwirbelte und manche Zweifel an dem bislang recht optimistischen Wachstumsszenario weckte. Abgesehen davon zeigen langfristige Charts sehr eindrücklich die parallele Entwicklung von weltweiter Produktion und Handel. Derzeit befinden wir uns in einer Phase des Schifffahrtszyklus, in der die Frachtraten einen wichtigen Hinweis auf die künftige Konjunkturentwicklung geben. Denn was über die Meere transportiert wird, geht als Input einige Wochen oder Monate später in die Produktion ein oder als Konsumgut über die Ladentheke.
In Containern werden hauptsächlich Güter für den Endverbraucher transportiert, aber auch Vorleistungen wie etwa Autoteile sowie Investitionsgüter. Im Bereich der Massengutfrachter (Bulker) wiederum werden vor allem Eisenerz und Kohle verschifft, die natürlich umso stärker nachgefragt werden, je stärker die Industrieproduktion wächst. Lässt man das Segment der Tanker außen vor – hier herrscht wegen des Abbaus von Rekordlagerbeständen immer noch Katerstimmung –, lassen sich aus der Entwicklung der Frachtraten daher Rückschlüsse auf die konjunkturelle Entwicklung ziehen. Der Anstieg insbesondere im Containersektor zeigt, dass die Weltwirtschaft auf dem Weg der Gesundung ist.
Weltwirtschaft brummt
Interessanterweise waren Frachtraten als Frühindikatoren in der Vergangenheit oft ungeeignet. Der Grund: In den Jahren 2005 bis 2009 lag das Orderbuch für Containerfrachter bei mindestens 50% der gesamten Flotte, in der Spitze sogar bei 60%. Noch bis 2014 lag dieser Wert über 20%, erst im vergangenen Jahr konnte ein gesunder Wert von rund 10% erreicht werden. Im Bulker-Segment erreichte das Orderbuch sogar die absurd anmutende Größe von knapp 80% der bestehenden Flotte. Auch hier ist man mittlerweile bei einem überschaubaren Orderbuch angekommen, das ein Volumen von 6% der Flotte ausmacht. Das heißt: Es gab ein massives Überangebot von Schiffen, das die Frachtraten entscheidend geprägt hat – während der Finanzmarktkrise 2008/2009 fielen sie ins Bodenlose. Wenn ein massives Überangebot an Schiffen besteht, dann haben Veränderungen in der Konjunktur und der Nachfrage nach Gütern kaum einen Einfluss auf die Frachtraten. Das ist so, als ob Sie am Kai stehen und an einem Tau ziehen, um ein Boot zu bewegen, aber die Hälfte des Taus liegt sorgfältig aufgerollt vor Ihnen. Erst wenn sie so lange gezogen haben, dass sich das Tau entrollt hat, wird das Boot reagieren.
Aus diesem Grund haben die Frachtraten jetzt einen klareren Aussagegehalt in Bezug auf die Konjunkturentwicklung. Natürlich bedeutet der derzeitige geradezu unglaubliche Boom bei den Containerfrachtraten nicht, dass wir vor einer ebensolchen Hausse der Weltwirtschaft stehen. Hier sind viele Sonderfaktoren am Werk. An erster Stelle steht der enorme Nachholbedarf infolge der zeitweisen coronabedingten Unterbrechungen der globalen Lieferketten im Frühjahr 2020 und des durch Lockdowns erzwungenen Konsumverzichts. Außerdem haben die Menschen den Verzicht auf Fernreisen gerne mit dem Kauf neuer Möbel, Fitnessgeräte oder anderer langlebiger Konsumgüter kompensiert, die auf dem Seeweg transportiert werden. Dennoch gilt: Die voll ausgelasteten Containerschiffe, die im Übrigen auch noch mit einem höheren Tempo als vor einigen Monaten ihre Routen abfahren und kaum noch verschrottet werden, zeigen, dass allerorten die Zuversicht zunimmt. Bestätigt wird dieser Optimismus auch durch eine überdurchschnittliche Aktivität an den Häfen, wie etwa die Container-Umschlagzahlen belegen. Denn Güter werden nur geordert, wenn man davon ausgeht, diese auch wieder verkaufen zu können. Unternehmen decken sich nur dann mit Investitionsgütern ein, wenn sie auf mittlere Sicht mit steigenden Umsätzen rechnen. Im Bereich der Massengutfrachter ist die Stimmung nicht so euphorisch. Im Vergleich zum Tiefpunkt vom Frühjahr 2020 ist der Frachtratenindex Baltic Dry aber ebenfalls deutlich gestiegen. Kurz: Das Tau ist entrollt und das Boot „Weltwirtschaft“ bewegt sich wieder.
Wie lange hält diese Phase an? Wenn alle Schiffe, die bei drei nicht auf Dock sind, für den Welthandel genutzt werden – das ist die derzeitige Situation im Containersektor –, werden da nicht die Akteure wieder leichtsinnig die Orderbücher füllen? Das ist nicht zu erwarten. Auch wenn jüngst die Orders wieder deutlich zugenommen haben, muss berücksichtigt werden, dass von der Order bis zum Stapellauf etwa anderthalb Jahre vergehen. Außerdem ist festzustellen, dass die globalen Werftkapazitäten während der Schifffahrtskrise kräftig zusammengedampft wurden und sich nicht von heute auf morgen wieder hochfahren lassen.
Weiter herrscht aktuell eine große Unsicherheit, mit welcher Antriebstechnologie ein Schiff ausgestattet werden soll. Zwar hat die International Maritime Organization verbindlich festgelegt, dass der Treibhausgasausstoß bis zum Jahr 2050 gegenüber dem Jahr 2008 halbiert werden muss. Mit den heute zur Verfügung stehenden Technologien ist das aber nicht zu schaffen und niemand möchte auf die falsche Technik setzen – schließlich werden Schiffe teilweise mehrere Jahrzehnte genutzt. Mit anderen Worten: Die Zeit des Überangebots an Schiffen dürfte für mehrere Jahre vorbei sein, so dass auch weiterhin die Nachfrage die treibende Kraft der Schifffahrt bleiben wird. Und das ist die Voraussetzung dafür, dass die Frachtraten die jetzt eingenommene Rolle als Frühindikator behalten.