Indien ist reif für Strukturreformen
Von Ernst Herb, HongkongIndiens Konjunkturlage hat sich infolge einer scharfen Verlangsamung der Investitionstätigkeit und eines sich abschwächenden Privatkonsums deutlich eingetrübt. Nachdem das Bruttoinlandsprodukt (BIP) im Schlussquartal 2018 im Vergleich zum Vorjahr noch um 6,6 % expandierte, waren es im ersten Quartal 2019 nur noch 5,8 %. Die Regierung des im Mai in allgemeinen Parlamentswahlen im Amt bestätigten Premierministers Narendra Modi kämpft mit deutlich höheren Staatsausgaben gegen den Abschwung.Die indische Notenbank ihrerseits stützt das Wachstum mit einer lockeren Geldpolitik. Am vergangenen Donnerstag wurde der Leitzins bereits das dritte Mal in diesem Jahr nach unten geschraubt. Doch benötigt Indien nicht in erster Linie solche schmerzlindernden Mittel, sondern vielmehr tiefgreifende Strukturreformen, etwa was den Arbeits- und Bankenmarkt oder auch das Justizwesen betrifft. Dabei weist vieles darauf hin, dass Asiens drittgrößte Volkswirtschaft tatsächlich vor einem kühnen Modernisierungsschritt steht. Parlamentsmehrheit hilftImmerhin verfügt der als unternehmensfreundlich geltende Modi im Parlament dank einem Erdrutschsieg über eine komfortable Mehrheit, womit er in den kommenden fünf Jahren über erheblichen wirtschaftspolitischen Freiraum verfügt. Dabei sind die vergangenen vier Jahre nicht einfach verschwendet worden. Mit der Einführung einer landesweit geltenden einheitlichen Steuer auf Güter und Dienstleistungen wurde etwa der Binnenmarkt deutlich gestärkt. Dank einem neuen Insolvenzgesetz ist auch die Stellung der Investoren gegenüber Schuldnern gestärkt worden.Nur hat sich die Umsetzung solcher Reformen als weit schwieriger erwiesen, als anfänglich angenommen worden ist. Das Problem lag dabei vor allem auch darin, dass die Regierung die neue Gesetzgebung schlecht kommuniziert hat. Das betrifft insbesondere das Demonetarisierungsprogramm, bei dem im November 2016 über Nacht 86 % alles zirkulierenden Bargeldes aus dem Verkehr gezogen wurden. Erfahrene SprecherinNun dürfte die Regierung zukünftige Reformschritte besser erklären. Dafür steht schon einmal die Person von Nirmala Sitharaman, die vor einer Woche zur neuen Finanzministerin ernannt worden ist. Die ehemalige Verteidigungsministerin war mit einigem Erfolg auch Sprecherin der regierenden Bharatiya-Janata-Partei. Sie muss jetzt das Vertrauen der Investoren zurückgewinnen, so etwa durch die Senkung der im regionalen Vergleich relativ hohen Unternehmenssteuern. Vordringlich ist auch die Konsolidierung des nach wie vor von der öffentlichen Hand dominierten Bankensektors. Wichtig ist vor allem auch eine Effizienzsteigerung in der Landwirtschaft.Allgemein wird davon ausgegangen, dass die Regierung Modi in den ersten 100 Tagen solche und andere wichtige Reformen ankündigen wird. Solche Schritte drängen sich umso mehr auf, als auch Indien zunehmend die vom chinesisch-amerikanischen Handelskrieg verursachte nachlassende externe Nachfrage spürt. Eins ist klar: Die Zeit ist reif für einen indischen Big Bang.