IM BLICKFELD

Japans erneute Transformation

Von Martin Fritz, Tokio Börsen-Zeitung, 23.10.2018 Heute vor 150 Jahren erhielt die Meiji-Zeit in Japan ihren Namen, der auf Deutsch "aufgeklärte Herrschaft" bedeutet. Damals endete der Feudalismus in Japan und es begann eine kapitalistische Reform...

Japans erneute Transformation

Von Martin Fritz, TokioHeute vor 150 Jahren erhielt die Meiji-Zeit in Japan ihren Namen, der auf Deutsch “aufgeklärte Herrschaft” bedeutet. Damals endete der Feudalismus in Japan und es begann eine kapitalistische Reform von oben. Jahrhundertelang hatte sich Japan von den “Barbaren” abgeschottet. Nun wurde das Land so schnell wie möglich modernisiert. Treibende Kraft war die Angst, eine westliche Kolonie zu werden, weil Chinas Hegemonie in Ostasien endete. Es gab eine Identitätskrise, wie der Historiker Yuichiro Shimizu von der Universität Keio sagte. 50 japanische Offizielle erkundeten in Europa und den USA Industrie, Handel, Verwaltung und Armee. Der Slogan der Meiji-Zeit lautete: “Das Land bereichern und das Militär stärken”. In der Folge industrialisierte sich Japan als erstes Land in Asien und katapultierte sich mit einem Kraftakt in die Neuzeit.Die Parallelen zwischen damals und heute sind nicht zu übersehen. Wie kurz vor der Meiji-Zeit steht Japan nach Einschätzung des Asien-Analysten Michael Auslin heute wieder mächtigeren Nationen gegenüber und befürchtet, eine Kolonie zu werden – diesmal von China. Nur dass die Ursache dieser Angst nicht wie damals der technologische Rückstand ist, sondern der demografische Niedergang. Daher will Premier Shinzo Abe unbedingt Japans Wirtschaft stärken. Ebenso wie wichtige Meiji-Reformer stammt er aus der Region Yamaguchi, was ihn in seiner Politik ermutigt.Ausländische Analysten werfen Abe vor, in seiner Wirtschaftspolitik zu sehr auf die Geldpolitik und zu wenig auf Strukturreformen zu setzen. Aber bei dieser Kritik wird das eigentliche Wagnis seiner Regierung übersehen. Während die Meiji-Reformer für ihre Modernisierung sich nur ausländisches Wissen und einige Berater ins Land holten, öffnet sich Japan unter der Abe-Regierung so stark nach außen wie nie zuvor – für Waren und Dienstleistungen, für ausländisches Kapital, für Gastarbeiter und für Touristen. Die Beschäftigung mit dem Ausland gehört für viele Unternehmen in Japan neuerdings genauso zum Alltag wie für viele Japaner die persönliche Begegnung mit Ausländern in der S-Bahn und an der Supermarktkasse. Angesichts der bisherigen Insellage stellt dies einen dramatischen Wandel dar. Annäherung an ChinaZwei Beispiele liefern die Freihandelsverträge mit der Europäischen Union und den Pazifikanrainern, die jeweils in diesem Jahr unterschrieben wurden. Beide Verträge verfolgen die gleichen Ziele, sowohl Japans Industrie mehr Zugang zum Ausland zu verschaffen als auch Reformen in Japans Landwirtschaft zu fördern. Die Annäherung an China – am Freitag findet das erste Gipfeltreffen von Abe mit Präsident Xi Jinping in Peking statt – könnte den nächsten Schub bringen. So erwägt Japan seine Zustimmung für das asienweite Freihandelsabkommen RCEP.Auch die Kurskorrektur in der Einwanderungspolitik gehört zu den Indizien für die Öffnung Japans. Bereits zum April 2019 will die Regierung Arbeitsvisa für geschätzt 500 000 Ausländer einführen. Bei bisher nur 1,3 Millionen ausländischen Arbeitskräften wäre dies ein enormer Sprung. Nach offiziellen Angaben sollen gering qualifizierte Ausländer bis zu fünf Jahre kommen dürfen und ausländische Facharbeiter mittelfristig ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht erhalten. Zuvor hat sich in den knapp sechs Abe-Jahren die Zahl der ausländischen Arbeitnehmer in Japan verdoppelt. Zugleich liegt das offizielle Ziel, die Zahl der ausländischen Touristen bis 2020 auf 40 Millionen jährlich zu steigern, in Reichweite. Vor zehn Jahren waren es fünfmal weniger.Japans Wirtschaft denkt ebenfalls rapide um. Toyota hat sein Zuliefernetzwerk für ausländische Lieferanten geöffnet, entwickelt die Technologie für autonome Autos nur in den USA und baut in Tokio ein Zentrum für künstliche Intelligenz auf, aber mit Arbeitssprache Englisch. Während der Abe-Zeit haben japanische Unternehmen Zukäufe für rund 540 Mrd. Dollar im Ausland getätigt und dabei sogar China überholt (siehe Grafik). Gleichzeitig wurden die Unternehmen über Vorgaben zur Corporate Governance gezwungen, ihre Kapitalrendite zu erhöhen und dadurch attraktiver für ausländische Kapitalgeber zu werden. Bis 2023 soll es in Japan 20 “Einhörner” – Start-ups mit einer Bewertung von 1 Mrd. Dollar – geben.Die Öffnung geht einher mit einer kräftigen Prise Nationalismus. Premier Abe betont die Besonderheit japanischer Traditionen und stellt sich in Asien in Abgrenzung von China als Verteidiger der liberalen internationalen Ordnung dar. In diesen Kontext gehört auch seine Verfassungsreform, die dem Militär mehr Bewegungsspielraum geben soll. Die Parallelen zur Meiji-Zeit sind auffällig: Auch ihre Reformer wollten die Nation stärken und sahen Japan als Speerspitze bei der Modernisierung Asiens. Wieder benutze Japan globale Normen, um sich im Ausland eine Führungsposition zu verschaffen, schreibt Asien-Analyst Auslin.Ein solcher Wandel von oben birgt Risiken: Der Nationalismus der Meiji-Ära mündete in Japans Eroberungskrieg gegen halb Asien. Zwar hätte das überalterte Japan dafür heute nicht mehr genügend junge Rekruten, aber für Chinas politische und militärische Ambitionen in Asien ist ein selbstbewusstes Japan vor seiner Haustür eine Provokation. Zugleich berührt der Ansturm der Ausländer die japanische Identität, die seit der Meiji-Zeit mit der ethnischen Homogenität verbunden wird.