Kann Russlands Wirtschaft eigentlich noch Frieden?
Putins Wirtschaft ist im Krieg gefangen
Russland würde im Falle eines Friedens tief in eine Rezession stürzen – Zu viele Gruppen profitieren inzwischen von der Rüstungsproduktion
Von Eduard Steiner, Moskau
Russland hat bewiesen, dass es Kriegswirtschaft kann. Aber wird es auch Friedenswirtschaft können, wenn der Ukraine-Krieg einmal vorbei ist? Oder sind die durchaus vorhandenen Vorteile der Kriegswirtschaft gar ein politisches Hindernis, um überhaupt einen Frieden anzustreben?
Sie läuft, die russische Wirtschaft. Vielleicht nicht ganz wie am Schnürchen. Aber doch weitgehend rund. Jedenfalls besser als erwartet und angesichts der Sanktionen im Land befürchtet. Um ganze 4,7% stieg das Bruttoinlandsprodukt (BIP) im ersten Halbjahr 2024, nachdem es schon im vergangenen Jahr um 3,6% zugelegt hatte. Und für das laufende Gesamtjahr erwartet die russische Zentralbank nun ein Plus von 3,5 bis 4% statt wie zuvor prognostiziert 2,5 bis 3,5%. Werte, von denen der Westen weit entfernt ist.
Im Großen und Ganzen sind es zwei Faktoren, die das russische BIP nach oben treiben: zum einen der ständig steigende Konsum und zum anderen die Staatsaufträge. In beiden Fällen ist der Krieg die Ursache. Weil nämlich Soldaten und Arbeiter in der Rüstungsindustrie fürstlich entlohnt werden und die Löhne auch in anderen Sektoren hochgetrieben werden, weil wegen der Jobwechsel der Arbeitskräftemangel dramatischer wird, haben die real verfügbaren Einkommen im zweiten Quartal annualisiert um 9,6% zugelegt. Und weil die Staatsausgaben für Rüstung und militärische Versorgung dieses Jahr mit 110 Mrd. Euro zum größten Budgetposten wurden, blüht nicht nur die Waffenindustrie auf, sondern auch ganze Cluster ziviler Sektoren, die zuliefern.
Geopolitische Ambitionen
Russland kann Kriegswirtschaft, weil sich der Staat bei seinen geopolitischen Ambitionen nicht lumpen lässt und die Fachleute an den wirtschaftlichen Schaltstellen von der Zentralbank abwärts sehr professionell für ein möglichst reibungsloses Getriebe sorgen. Aber wird das Land auch Friedenswirtschaft können, wenn der Ukraine-Krieg einmal vorbei ist? Wie wird sie vom Tropf des Verteidigungsbudgets wieder herunterkommen? Und kann Kremlchef Wladimir Putin das überhaupt wollen, wo doch das jetzige Modell für ihn komfortabel ist, weil es eine breite Schicht von wirtschaftlich Zufriedenen schafft, während es zugleich die Kaltstellung von Dissidenten erleichtert und den Rest der Elite und der Gesellschaft auf Linie gebracht hat?
„Es ist leichter, die Kriegsprobleme zu lösen als die Friedensprobleme, weshalb sich mit Letzteren niemand beschäftigen will“, sagt Andrey Movchan, Russlands renommiertester Investmentbanker und Experte des neuen Thinktanks „Case“ zur Evaluierung der westlichen Sanktionen, im Gespräch mit der Börsen-Zeitung. „Wenn der Kreml den Krieg beenden will, bleibt eine Menge an Fragen, was man nun mit der Wirtschaft machen soll.“
Nutznießer des Wirtschaftsbooms
Das Gros der führenden Experten zur russischen Wirtschaft meint daher, dass der Kreml versuchen dürfte, die Kriegswirtschaft auch nach dem Krieg möglichst lange aufrechtzuerhalten. Wenn man zudem bedenke, wie viele Panzer und Munition aus dem Sowjetbestand zerstört worden seien, werde die Rüstungsindustrie Jahre damit zu tun haben, die Reserven wieder aufzufüllen, erklärt Wassili Astrow vom Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche (WIIW). Die Wirtschaft sei also kein Argument, den Krieg nicht zu beenden. Zumal Putin nach einem Jahrzehnt Stagnation seit der Krim-Annexion nun seit 2023 auf einen Wirtschaftsboom verweisen kann und viele Menschen und Gruppen zu Nutznießern der Situation geworden seien.
Was Putin neben dem Krieg bisher wirtschaftlich gemacht hat, ist eine Verdreifachung der Verteidigungsausgaben gegenüber 2021. Hatten diese Ausgaben damals weniger als 3% des BIP betragen, sind es inzwischen knapp 6,7%. Das sei bislang noch keine kritische Zahl, aber man nähere sich sukzessive der Situation von Mitte der 1980er Jahre, als der Wert 7,4% betragen habe, sagte Putins Sprecher Dmitri Peskow.
3,5 Millionen Rüstungsjobs
Zum Vergleich: Zur Zeit des Vietnam-Krieges hat der Wert in den USA durchschnittlich gut 8% betragen, wie Vergleichsdaten des russischen Exil-Wirtschaftsmediums „The Bell“ zeigen. Und im Jahr der Irak-Invasion 2003 seien es in den USA 3,8% gewesen. Wuchtig ist demgegenüber die Situation in der Ukraine, wo die Militärausgaben im vergangenen Jahr bei 37% des BIP lagen, wie das Stockholm International Peace Research Institute (Sipri) schreibt.
In Russland umfasst der dortige Rüstungssektor im engeren Sinn 6.000 Betriebe mit 3,5 Millionen Mitarbeitern. Dazu kommen 10.000 Unternehmen, die mit dem Rüstungssektor verbunden sind. Das Institut für Transitionsökonomien bei der Bank of Finland bezifferte den Beitrag der kriegsbezogenen Sektoren (samt Bautätigkeiten etwa in den besetzten ukrainischen Gebieten) zum BIP-Wachstum auf ganze 40%.
„Große Wirtschaftskrise“
Entziehe man der Wirtschaft diesen außergewöhnlichen keynesianischen Stimulus, schaffe man eine Krise, meint Oleg Itskhoki, russischstämmiger Ökonom an der University of California, kürzlich in einem Interview. Man werde die hohen Verteidigungsausgaben erst zurückfahren, wenn kein Geld mehr da sei. Konstantin Sonin, russischstämmiger Wirtschaftsprofessor an der University of Chicago, prophezeit im Falle einer Entmilitarisierung daher „eine große Wirtschaftskrise“: „Jeder, der in der militärischen Produktion arbeitet, wird entlassen werden müssen; es wird der Sowjeteffekt 2.0 sein.“
So gut wie jeder Vergleich mit der Sowjetunion hinkt inzwischen freilich. Er berücksichtigt nämlich die Tatsache nicht, dass sich im Laufe der Jahrzehnte eine Marktwirtschaft mit robusten, krisenerfahrenen und daher extrem flexiblen Klein- und Mittelunternehmern herausgebildet hat, die sich schon beim Übergang zur Kriegsökonomie vor gut zwei Jahren als stützende Säule erwiesen und einen Absturz der Wirtschaft verhindert haben.
„Aber ein Innovationspush, den es beim Übergang zur Friedensökonomie bräuchte, könnte nur vom Westen kommen. Und der wird auf sich warten lassen, weil er einige Jahre zögern wird“, sagt Roland Götz, emeritierter Russlandexperte der Freien Universität Berlin, auf Anfrage der Börsen-Zeitung. „Es geht nicht um Massen an Geld, es geht um Quellen für die Modernisierung. Aber die zerrissenen Bande mit dem Westen werden sich in absehbarer Zeit nicht mehr knüpfen lassen. Außerhalb der Militärindustrie wird Russlands Wirtschaft technologisch zurückfallen.“
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