Kaum Ruhe für Hongkong nach der Wahl

Trotz klarer Mehrheit für neue Regierungschefin

Kaum Ruhe für Hongkong nach der Wahl

Von Ernst Herb, HongkongCarrie Lam wurde am Sonntag mit 777 der möglichen 1 194 Stimmen in das Amt der Hongkonger Regierungschefin gehievt. Damit hat sie ein klares Mandat des Establishments erhalten, das guten Verhältnissen zur Zentralregierung erste Priorität beimisst. Die 59-jährige Lam, die bis Jahresanfang Verwaltungschefin und damit die Nummer 2 der lokalen Regierung war, kann damit bei der Umsetzung ihrer Wahlversprechen auf die Unterstützung Pekings zählen.Das ist umso wichtiger, steht die 1997 von Großbritannien an China zurückgegebene ehemalige Kolonie doch vor enormen Herausforderungen. Das ist auf wirtschaftlicher Ebene allem voran ein außer Rand und Band geratener Immobilienmarkt, der erschwinglichen Wohnraum außerhalb der Reichweite eines Großteils nicht nur der unteren sozialen Schichten, sondern auch der Haushalte mit mittleren Einkommen gerückt hat. Dollar-Peg bereitet ProblemeEbenfalls reformbedürftig ist das Wechselkurssystem der wirtschaftlich autonomen Sonderverwaltungszone. Der Wechselkurs des HK-Dollar ist seit 1983 an den amerikanischen Greenback gekoppelt. Damit muss die Quasi-Zentralbank Hongkongs die Geldpolitik der US-Notenbank Federal Reserve im Maßstab von eins zu eins nachmachen, und das obwohl die lokale Wirtschaft anders als noch vor zwei Jahrzehnten wirtschaftlich sehr eng mit dem Festland verbunden ist.Das zeigt sich unter anderem darin, dass das Territorium und seine Währung für chinesische Investoren angesichts eines unter Abwertungsdruck stehenden Yuan ein sicherer Hafen geworden sind. Ein wachsender Anteil des aus dem Festland nach Hongkong fliehenden Kapitals fließt dabei in den lokalen Immobilienmarkt, was trotz zunehmend strenger gewordener staatlicher Abwehrmaßnahmen mehr noch als die niedrigen Zinsen die Boden- und Häuserpreise nach oben treibt.Das hat nicht nur zu einer Verschärfung der sozialen Spannungen geführt. Die steigenden Büro- und Wohnungsmieten haben auch das internationale Finanzzentrum gegenüber Singapur, Shenzhen oder auch Schanghai weniger wettbewerbsfähig gemacht.Für die erste Frau an der Spitze der Hongkonger Regierung dürfte indes der politische Reformstau die größte Herausforderung sein. Das zeigt sich schon einmal daran, dass sie am Wochenende nicht direkt vom Volk oder vom Parlament gewählt worden ist, sondern von einem ständestaatlichen Wahlgremium, das mehrheitlich aus pekingfreundlichen Wirtschaftsvertretern zusammengesetzt ist.Lam geht in den Augen ihrer Kritiker demokratische Legitimation ab. Die Opposition sieht auch das Prinzip von “Ein Land, zwei Systeme” in Gefahr, unter dem Hongkong wie mit Großbritannien vor dem Abzug vertraglich vereinbart bis 2047 außer in Verteidigungsfragen und der Außenpolitik über ein großes Maß an Autonomie verfügt. In diesem Rahmen hat Peking Hongkong auch versprochen, dass der Regierungschef in allgemeinen Wahlen direkt vom Volk bestimmt werden kann. Opposition zerstrittenWie explosiv der Streit ist, hat sich vor drei Jahren gezeigt, als im Zuge der sogenannten “Umbrella-Revolution” Zehntausende Demonstranten während drei Monaten Teile des zentralen Verwaltungs- und Finanzviertels lahmlegten. Ausgelöst wurden die Unruhen damals von der blockierten Wahlrechtsreform.Vorerst scheint eine unter sich zerstrittene Opposition und eine gegen Massenproteste besser vorbereitete Polizei eine Wiederholung der Vorfälle wie im Herbst 2014 wenig wahrscheinlich zu machen. Doch Lam dürfte wie vor ihr schon ihr Vorgänger Leung Chun-ying im Parlament, wo 50 % der Abgeordneten frei gewählt sind, auf den kompromisslosen Widerstand der Opposition stoßen. Diese verfügt zwar im Legislative Council über keine Mehrheit, sie kann aber mit einem Anteil von über einem Drittel der Sitze wichtige Vorlagen blockieren oder im Falle des Haushaltes zumindest lange hinauszögern. Wirtschaft noch unberührtDaran ist auch der im Volk äußerst unbeliebte Vorgänger Leung Chun-ying gescheitert, der sich erst gar nicht mehr zu einer zweiten Amtszeit gestellt hat. Die gewählte Chief Executive der Hongkonger Regierung hat zwar nach der Wahl versprochen, alles Mögliche unternehmen zu wollen, um Brücken zum unzufriedenen Bevölkerungsteil zu bauen. Doch könnte sie wie schon Leung dazu verurteilt sein, das 7,2 Millionen Einwohner zählende Territorium nicht vorwärtsschauend zu regieren, sondern nur mehr schlecht als recht zu verwalten.Das hat sich bisher noch nicht allzu direkt auf die Wirtschaft ausgewirkt. Aber längerfristig ist ein Widerspruch zwischen den demokratischen Ambitionen der Bevölkerung und den zunehmend stärkeren Einmischungen Pekings in Hongkong eine soziale und politische Zeitbombe.