Knapp ein Viertel mehr Insolvenzen im ersten Halbjahr
Knapp ein Viertel mehr Insolvenzen im ersten Halbjahr
Coface warnt vor schlechter werdender Zahlungsmoral
ba Frankfurt
Die anhaltende Konjunkturflaute sorgt für einen steten Anstieg der Insolvenzzahlen in Deutschland: Im August hat die Zahl der beantragten Regelinsolvenzen um 10,7% im Vergleich zum Vorjahresmonat zugelegt. „Mit Ausnahme des Juni 2024 (+6,3%) liegt die Zuwachsrate damit seit Juni 2023 im zweistelligen Bereich“, erklärte dazu das Statistische Bundesamt (Destatis). Experten erwarten, dass sich die Fallzahl in diesem Jahr in ähnlichem Ausmaß erhöht wie 2023 und sich die Entwicklung erst im kommenden Jahr verlangsamt.
Forderungen mehr als verdoppelt
Da die Regelverfahren erst nach der ersten Entscheidung des Insolvenzgerichts − etwa drei Monate nach dem tatsächlichen Insolvenzantrag − in die Statistik einfließen, liegen derzeit nur die endgültigen Zahlen für das erste Halbjahr vor: Im Vergleich zum Vorjahreszeitraum meldeten die Amtsgerichte für die ersten sechs Monate ein Plus von 24,9% auf 10.702 beantragte Unternehmensinsolvenzen. Die dabei entstandenen Forderungen der Gläubiger bezifferten die Amtsgerichte auf rund 32,4 Mrd. Euro. Im ersten Halbjahr 2023 waren es noch rund 13,9 Mrd. Euro. Die Verbraucherinsolvenzen nahmen ebenfalls binnen Jahresfrist zu, und zwar um 6,7% auf 35.371.
Verkehr und Lagerei weiter am stärksten betroffen
Insgesamt gab es bezogen auf 10.000 Unternehmen im ersten Halbjahr 31,2 Unternehmensinsolvenzen. Am stärksten betroffen ist weiterhin der Wirtschaftsabschnitt Verkehr und Lagerei mit 60,9 Fällen, gefolgt vom kriselnden Baugewerbe mit 47,4 Insolvenzen. Bei den sonstigen wirtschaftlichen Dienstleistungen, zu denen etwa Zeitarbeitsfirmen gehören, melden die Statistiker 46,8 Fälle. Im Gastgewerbe gab es 40,8 Insolvenzen je 10.000 Unternehmen.
Experten sehen kaum Grund zur Sorge
Der Berufsverband der Insolvenzverwalter und Sachwalter Deutschlands (VID) wertet die Entwicklung weiter als eine Normalisierung nach der Coronazeit mit historisch niedrigen Insolvenzzahlen. „Wir sind weit von den Zahlen zu Zeiten der Finanzkrise entfernt, die im Jahr 2009 bei knapp 33.000 Unternehmensinsolvenzen lag“, erklärte VID-Präsident Christoph Niering.
Obwohl im ersten Halbjahr mit 40 Großinsolvenzen und entsprechend vielen Arbeitnehmern ein Höchststand seit 2015 markiert wurde, sieht Niering auch hier keinen Grund zur Besorgnis. Denn der prozentuale Anteil der Großinsolvenzen am gesamten Insolvenzgeschehen sei eher gering. Zudem sei die Wahrscheinlichkeit, dass die Sanierung gelinge, deutlich höher als bei den kleineren Unternehmen. „Das hilft auch beim Arbeitsplatzerhalt“, so der VID-Vorsitzende. Nachdem die Unternehmen schon allein aus demografischen Gründen mit einem zum Teil gravierenden Fach- und Arbeitskräftemangel kämpften, würden außerdem viele von einer Insolvenz betroffenen Arbeitnehmer im Fall einer Kündigung sehr schnell ein neues Beschäftigungsverhältnis finden.
DIHK erhöht Insolvenzprognose
Der DIHK hingegen bezeichnete die Insolvenzzahlen als „alarmierend“ und erwartet nun deutlich mehr als die bislang prognostizierten 20.000 Unternehmensinsolvenzen für das Gesamtjahr. „Sorge bereiten die Zahlen im verarbeitenden Gewerbe“, betont DIHK-Mittelstandsexperte Marc Evers. „Der deutlich überproportionale Anstieg der Unternehmensinsolvenzen um gut 29% in der Industrie, das Absacken der Industrieproduktion, die immer deutlicheren Verlagerungstendenzen – all das sind keine guten Aussichten für den hiesigen Produktionsstandort.“
Es drohe der Verlust an wichtiger volkswirtschaftlicher Substanz. Evers erneuerte die DIHK-Forderung nach beherzten und wirksamen Maßnahmen der Politik, etwa einen Befreiungsschlag beim Bürokratieabbau oder Entlastungen bei den im internationalen Vergleich sehr hohen Unternehmenssteuern.
Habeck nimmt Mahnungen von Draghi und BDI ernst
Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) betonte mit Blick auf die am Dienstag vorgelegte BDI-Studie und den Bericht von Mario Draghi, Deutschland sei „Industrieland und soll es bleiben, von der Grundstoff- bis zur Hightech-Industrie“. Beide Berichte zeigten deutlich, dass viel auf dem Spiel stehe: „Wir müssen unsere Wirtschaft modernisieren und die Wettbewerbsfähigkeit unseres Landes sichern“, betonte Habeck. Mit der Wachstumsinitiative habe die Bundesregierung noch einmal einen wichtigen Anlauf unternommen, um die strukturellen Probleme Deutschlands anzugehen. Die beiden Berichte würden aber unterstreichen, dass es mehr brauche.
Coface warnt vor schlechter werdender Zahlungsmoral
Ungemach droht derweil von der schlechter werdenden Zahlungsmoral: Laut der jährlichen Coface-Umfrage sind 78% der befragten Unternehmen von Zahlungsverzug betroffen. Der Tiefststand lag 2021 bei 59%. Grund zur Sorge bereitet vor allem der sprunghafte Anstieg von Rechnungen, die länger als 6 Monate fällig bleiben. „Extrem lange überfällige Zahlungen stellen ein spürbares Geschäftsrisiko dar und können letztlich zur Insolvenz führen, wie der starke Anstieg von Firmenpleiten in den letzten Monaten zeigt“, sagt Jochen Böhm, der das Risk Underwriting bei Coface verantwortet.
„Unserer Erfahrung nach werden weltweit rund 80% der Forderungen, die länger als 180 Tage überfällig sind, nie bezahlt“, erklärt Böhm. 16% der befragten Unternehmen sind von extrem lange überfälligen Zahlungen – also einem Rückstand zwischen 6 Monaten und 2 Jahren – betroffen, die einen Anteil von 2% oder mehr an ihrem Jahresumsatz ausmachen. Im Vorjahr waren es noch 9%. Stark betroffen ist laut Coface der Maschinenbau mit 30%.
Unter den Branchen verzeichnete die Textil- und Bekleidungsbranche mit 30 Prozentpunkten die kräftigste Verschlechterung der Zahlungsmoral. Hier klagen 88% der Befragten über Zahlungsverzug. Ganz im Gegensatz die Transportbranche, in der nur mehr 68% der Firmen nach 85% im Vorjahr länger auf ihr Geld warten müssen.
Das Vertrauen der Unternehmen in die eigenen Kunden bleibt Coface zufolge hoch. Denn 2024 haben 80% der Firmen ihren Kunden einen Lieferantenkredit angeboten – vor allem aus den besonders exportorientierten Sektoren wie Maschinenbau (94%) und Automobilindustrie (90%). Die durchschnittliche Zahlungsfrist sei mit 32 Tagen dabei relativ kurz geblieben. „In finanziell und wirtschaftlich anspruchsvollen Zeiten versuchen die Unternehmen, die Zahlungsziele anbieten, möglichst früh an ihr Geld zu kommen, um den eigenen Cashflow zu verbessern“, sagte Coface-Volkswirtin Christiane von Berg. Mehr als die Hälfte der Befragten fordere ihr Geld innerhalb von 30 Tagen. Mit 21 bzw. 25 Tagen würden die Holzbranche und das Baugewerbe am frühesten zur Kasse bitten, während die Automobilbranche mit 46 Tagen wie bereits 2023 am großzügigsten agiere. In anderen Ländern sieht es anders aus. Laut Coface betrug die durchschnittliche Zahlungsfrist in Polen 42 Tage, in Frankreich waren es 48 Tage und in China 70 Tage.