Krise als Chance
Das Einzige, was wir zu fürchten haben, ist die Furcht selbst. Auf diese Worte aus der Antrittsrede von Franklin Delano Roosevelt aus dem Jahr 1933 nahm der britische Schatzkanzler Rishi Sunak Bezug, als er vergangene Woche sagte, man müsse lernen, mit dem Virus zu leben und ohne Angst zu leben. Anders als Premierminister Boris Johnson, der sich bei seinen Durchhalteparolen lieber an Winston Churchill orientiert, weiß Sunak, dass ein erneuter Lockdown für weite Teile der Wirtschaft das Ende bedeuten würde. Zugleich will er offenbar dem Prozess der schöpferischen Zerstörung, der durch die Coronavirus-Pandemie in Gang gesetzt wurde, weitgehend freien Lauf lassen. Joseph Schumpeter kommt das Verdienst zu, die Idee von Karl Marx, dass die Neukombination von Produktionsfaktoren alte Strukturen verdrängt, positiv gewendet zu haben – als die Fähigkeit zu Innovation und technischem Fortschritt.Sunak kündigte an, ab Ende Oktober nicht mehr Lohnsubventionierung mit der Gießkanne betreiben, sondern nur noch überlebensfähige Arbeitsplätze schützen zu wollen. Er halte es für grundsätzlich falsch, Leute in Jobs zu halten, die es ohne staatliche Hilfe gar nicht mehr gäbe. Im März habe man die Betriebe geschlossen und die Leute aufgefordert, zu Hause zu bleiben. Mittlerweile habe sich die Situation geändert. Existenzfähige Unternehmen hätten mit Nachfrageproblemen zu kämpfen. Man müsse neue Möglichkeiten schaffen und der Wirtschaft erlauben voranzuschreiten, sagte er im Unterhaus. Man darf gespannt sein, wie ernst es ihm damit ist.Schon seit der Finanzkrise gibt es in Großbritannien eine Vielzahl von Zombiefirmen, die in einem normalen Zinsumfeld längst zu Staub zerfallen wären. Der politische Druck auf Sunak wächst, eine weitere Generation von nicht mehr lebensfähigen Firmen über Wasser zu halten, die gerade einmal ihre Zinskosten decken können. Nach Schätzung der Denkfabrik Onward, die von einem ehemaligen Berater Theresa Mays geführt wird, ächzt mittlerweile eines von fünf Unternehmen unter einer entsprechenden Schuldenlast.Die Begehrlichkeiten sind groß und werden lautstark vorgetragen – auch von Vertretern der Regierungspartei. Als er den Milliardär Richard Branson abblitzen ließ, der einen dreistelligen Millionenkredit für seine defizitäre Fluggesellschaft Virgin Atlantic haben wollte, zeigte Sunak Charakter. Er empfahl Branson und seinem Partner Delta Air, erst einmal alles zu versuchen, um ihre Airline mit Bordmitteln in der Luft zu halten. In der Öffentlichkeit wachsen ohnehin Zweifel, was Hilfen für die Luftfahrtbranche angeht, wenn nicht mehr davon ausgegangen werden kann, dass das Virus in Kürze überwunden sein wird. Schon vor der Pandemie bestimmten Überkapazitäten den Markt. Nun dürfte die dritte Start- und Landebahn am Londoner Flughafen Heathrow erst in zehn bis 15 Jahren benötigt werden – und das ist eine optimistische Schätzung. Andererseits brachte die Pandemie einen enormen Schub für den Online-Lebensmittelhandel. Das Arbeiten von zu Hause erzwang bei vielen klassischen Bürotätigkeiten eine radikale Modernisierung der Abläufe, die der Produktivität nicht abträglich gewesen sein dürfte. Und im Bankwesen schritt die Digitalisierung rasant voran.Es geht Sunak inzwischen nicht mehr um die Überbrückung der Zeit bis zur Rückkehr der Verhältnisse, die vor der Pandemie herrschten, sondern um die dauerhafte Anpassung an die neue Situation. Dabei hat es mehr Sinn, auf die Gewinner zu setzen, als den Verlierern hinterherzuweinen. Das war auch der Ansatz von Margaret Thatcher, als sie den Abschied vom Steinkohlebergbau nicht bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag hinauszögern wollte. Doch schon damals zeigte sich, dass der Zerstörung nicht unbedingt ein schöpferischer Wiederaufbau folgt. Die ehemaligen Bergbauregionen haben sich bis heute nicht von den Zechenschließungen erholt. Wie das nördliche Ruhrgebiet zeigt, lässt sich die Ansiedlung von Zukunftsindustrien auch mit gut gemeinter Industriepolitik nicht erzwingen.Großbritannien steht erneut vor einem dramatischen Strukturwandel, der durch das Auslaufen der Brexit-Übergangsphase zum Jahresende noch beschleunigt wird. Roosevelt warnte in seiner Antrittsrede vor der namenlosen, blinden, sinnlosen Angst, die die Anstrengungen lähmt, derer es bedarf, um den Rückzug in einen Vormarsch umzuwandeln. Sie ist heute so aktuell wie damals, als es in den Vereinigten Staaten darum ging, die Folgen der Weltwirtschaftskrise zu überwinden.——Von Andreas HippinDie Pandemie hat einen Prozess der schöpferischen Zerstörung ausgelöst. Die britische Regierung will ihm mehr oder weniger freien Lauf lassen.——