IM BLICKFELD

Mexikos neuem Präsidenten sind die Hände gebunden

Von Sandro Benini, Mexiko-Stadt Börsen-Zeitung, 1.8.2012 Seit mindestens 30 Jahren gelobt der mexikanische Präsident jeweils bei seinem Amtsantritt, den Reformstau endlich anzugehen, und stets erweist sich das Versprechen im Nachhinein als leer....

Mexikos neuem Präsidenten sind die Hände gebunden

Von Sandro Benini, Mexiko-StadtSeit mindestens 30 Jahren gelobt der mexikanische Präsident jeweils bei seinem Amtsantritt, den Reformstau endlich anzugehen, und stets erweist sich das Versprechen im Nachhinein als leer. Dabei sind es zentrale Bereiche, in denen der Handlungsbedarf immer größer wird: Die Macht der Monopole und Duopole in der elftgrößten Volkswirtschaft der Welt ist ungebrochen, etwa in den Sektoren Telekom und elektronische Medien, aber auch bei der Produktion der Grundnahrungsmittel Tortilla und Brot. Das mexikanische Arbeitsgesetz ist rigide, die Macht der Gewerkschaften teilweise geradezu grotesk, die Justiz zeichnet sich aus durch Ineffizienz und Korruption, das Bildungswesen durch katastrophale Ergebnisse in den Pisa-Tests. Und kein anderer großer Energiekonzern ist weltweit so hermetisch abgeschottet wie Pemex.Mit einem prognostizierten Jahreswachstum von gut 4 % und dem 2010 erzielten Zuwachs von 5,5 % zeigt sich Mexikos Wirtschaft momentan zwar deutlich dynamischer als etwa die brasilianische oder die argentinische. Über das vergangene Jahrzehnt betrachtet beträgt die durchschnittliche Wachstumsrate allerdings lediglich 2 %, während das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf praktisch stagnierte. In der Folge gibt es in Mexiko noch immer viel zu wenig qualifizierte, anständig entlohnte Arbeitsplätze im formellen Sektor. 60 % der Beschäftigten müssen sich mit den zumeist prekären Bedingungen des informellen oder halbformellen Sektors abfinden.Die große Frage lautet deshalb: Wird der designierte Präsident Enrique Peña Nieto, der am 1. Juli gewählt wurde und Anfang Dezember sein Amt antritt, die Strukturreformen endlich anpacken? Während des Wahlkampfes hat er es unermüdlich versprochen, und seine jugendlich-energische Art sowie gewisse Erfolge während seiner Zeit als Gouverneur des Bundesstaates Estado de México haben in der Öffentlichkeit und bei einem Teil der Kommentatoren Hoffnungen geweckt. Doch die Skepsis überwiegt, und dies aus mehreren Gründen. Vorwurf des WahlbetrugsGenau wie vor sechs Jahren ficht der unterlegene linke Kandidat Andrés Manuel López Obrador das Wahlergebnis an. Er wirft Peña Nieto und seiner Partei der Institutionellen Revolution (PRI) systematischen Stimmenkauf und andere Wahldelikte vor. López Obradors Forderung, den Urnengang zu annullieren, dürften die Wahlrichter zwar abschmettern. Es ist aber unbestreitbar, dass es von allen Parteien der PRI war, der am 1. Juli am meisten Stimmen kaufte, besonders in verarmten ländlichen Gebieten. Die Legitimation Peña Nietos ist darum schon vor seinem ersten Amtstag gefährdet.Zutreffend ist auch der Vorwurf, dass ihn der weltweit größte spanischsprachige Medienkonzern Televisa unterstützt, und dies seit Jahren. Nun sind aber Televisa und sein Konkurrent TV Azteca die beiden Unternehmen, die den mexikanischen Fernsehmarkt nach Belieben dominieren. In jüngster Zeit hat Televisa darüber hinaus seine Fühler – treffender wäre wohl: seine Krakenarme – in Richtung Mobilfunk ausgestreckt, über den mit Carlos Slim der reichste Mann der Welt und dessen international tätiges Unternehmen América Móvil herrschen. Dass Peña Nieto seinen Sieg in beträchtlichem Ausmaß Televisa verdankt, ist eine schlechte Voraussetzung, um einen der zukunftsträchtigsten Märkte dem Wettbewerb zu öffnen.Noch gravierender ist der Umstand, dass der Partei des künftigen Präsidenten im Parlament die absolute Mehrheit fehlt, sie also auf Kompromisse mit der Opposition angewiesen sein wird – besonders bei den großen Reformplänen, für die teilweise eine Verfassungsänderung und damit sogar eine Zweidrittelmehrheit notwendig ist. Peña Nieto befindet sich also in derselben Situation wie seine beiden Vorgänger Vicente Fox und Felipe Calderón von der konservativen Partei PAN (Partido Acción Nacional), die ihrerseits auf die parlamentarische Unterstützung der Opposition angewiesen waren.Die größten wirtschaftspolitischen und ideologischen Übereinstimmungen bestehen zwischen der neuen Regierungspartei, dem PRI, und der alten, dem PAN. Dass die insgesamt zwölfjährige Periode von Fox und Calderón so ernüchternd verlaufen ist, lag nicht zuletzt an der Blockadepolitik des PRI. Dessen Abgeordnete haben die Reformversuche der PAN-Präsidenten systematisch verzögert, verwässert und oft versenkt, womit sie parteipolitisches Kalkül über das Wohl des Landes stellten. Nun steht der PAN, der bei den Wahlen empfindlich geschwächt wurde, vor der Schicksalsfrage: Soll er Peña Nieto die Hand reichen, um ihm zumindest die dringendsten Reformen zu ermöglichen? Damit würden die Konservativen riskieren, dass 2018 erneut ein Exponent des PRI ins höchste Amt gewählt wird. Oder sollen sie sich rächen und den 45-jährigen Anwalt ausbremsen, wo immer es geht? Die Erfahrung zeigt, dass im mexikanischen Politbetrieb von zwei Möglichkeiten meist die negative eintritt.