Nationale Unabhängigkeit um jeden Preis
Von Andreas Hippin, London
Schottlands Nationalisten werden die Wahlen am 6. Mai aller Wahrscheinlichkeit nach für sich entscheiden. Seit der britischen Unterhauswahl im Dezember 2019 kommt die Scottish National Party (SNP) in Umfragen zur Wahlabsicht bei den Regionalwahlen in Schottland auf gut 50 % der Stimmen. Und sollte es wider Erwarten doch nicht reichen, böten sich die schottischen Grünen als Mehrheitsbeschaffer an. Sie verfügen derzeit über fünf der insgesamt 129 Mandate im schottischen Regionalparlament in Holyrood, die SNP über 61. Die Nationalisten werden den Wahlausgang als erneute Volksabstimmung über die Unabhängigkeit werten und ein weiteres Referendum verlangen. Der britische Premierminister Boris Johnson erteilte solchen Forderungen zwar stets eine Absage. Schließlich hatten sich 55,3 % der schottischen Wahlberechtigten erst im September 2014 gegen einen nationalen Alleingang ausgesprochen. Doch dürfte eine solche Verweigerungshaltung angesichts der breiten öffentlichen Unterstützung für ein Ende der mehr als 300 Jahre alten Union mit England schwer aufrechtzuerhalten sein.
In Schottland hatten vor fünf Jahren 62 % gegen den britischen EU-Austritt gestimmt. Die Nationalisten sprechen deshalb von einer veränderten Ausgangslage, die ein weiteres Referendum rechtfertige. Die schottische Regierungschefin Nicola Sturgeon (SNP) trägt zwar hinter den Kulissen einen erbitterten innerparteilichen Machtkampf mit ihrem Vorgänger Alex Salmond aus. Doch tut das ihrer Popularität keinen Abbruch. Die Politikerin hat es geschafft, im Umgang mit der Coronavirus-Pandemie kompetenter als Johnson zu erscheinen, obwohl auch in Schottland mit Sars-CoV-2 infizierte Krankenhauspatienten ungetestet in die Altenheime abgeschoben wurden und ähnliches Chaos in Sachen Schulabschlussprüfungen herrschte.
Nach Schätzung des Centre for Economic Performance an der London School of Economics würden die Kosten der Unabhängigkeit die des EU-Austritts um ein Mehrfaches übertreffen (siehe Grafik), ist Restbritannien doch der wichtigste Handelspartner. Leider haben die Nationalisten die vergangenen Jahre nicht dazu genutzt, eine überzeugende Vision für die wirtschaftliche Zukunft eines unabhängigen Schottlands zu entwickeln. Bis auf den unbedingten Wunsch, in die EU einzutreten, ist wenig klar.
„Sterlingisierung“ birgt Risiko
So will die SNP vorerst das britische Pfund weiter als Landeswährung verwenden, während das Land ein eigenes Finanzsystem mit einer eigenen Zentralbank aufbaut und die Einführung einer eigenen Währung vorbereitet – auch ohne Zustimmung der Bank of England, die vor solchen Ideen schon 2014 gewarnt hatte. Auch für die Dauer der Überprüfung, ob es im Interesse Schottlands liegt, die neue Währung einzuführen, soll die „Sterlingisierung“ weitergehen. Es ist zwar gar nicht so ungewöhnlich, dass Staaten die Währung eines anderen Landes inoffiziell verwenden. Das als „Dollarisierung“ bekannte Modell kommt allerdings meist dort zum Einsatz, wo politische Instabilität und Hyperinflation herrschen. Es wäre auch ungewöhnlich, dass die EU ein Schottland aufnehmen würde, das auf das britische Pfund als inoffizielle Währung angewiesen ist. Vermutlich zielen die Nationalisten mit dem haltlosen Versprechen der EU-Mitgliedschaft bei vorläufiger Weiterverwendung des Pfunds auf das Sicherheitsbedürfnis ihrer Wähler. Die den Unabhängigkeitsgegnern nahestehende Denkfabrik These Islands fragt bereits, ob „Schottlands nächste Finanzkrise“ bevorsteht. DeAnne Julius, eines der Gründungsmitglieder des geldpolitischen Komitees der Bank of England, spricht von einem „enorm riskanten Experiment für Schottland“. Aus ihrer Sicht sei es unmöglich, unter den Ländern, die sich für politische Unabhängigkeit bei Verwendung der Währung eines anderen Landes entschieden haben, eine Erfolgsgeschichte zu finden. Eine schottische Zentralbank könne nicht als Kreditgeber letzter Instanz auftreten, weil sie kein neues Geld schaffen kann, solange das Land das Pfund als Ersatzwährung verwendet. „Ich denke, Schottland müsste sich einem tiefgreifenden Wandel unterziehen und womöglich ein paar schwierige wirtschaftliche Anpassungen vollziehen“, sagt der Harvard-Professor Jeffrey Frankel, der den ehemaligen US-Präsidenten Bill Clinton beriet.
Derzeit ermöglichen der nationalistischen Lokalregierung Transferzahlungen aus England höhere öffentliche Ausgaben als in jeder anderen britischen Region. Im Fiskaljahr 2019/20 belief sich das implizite Haushaltsdefizit auf 8,6 % des schottischen Bruttoinlandsprodukts (BIP). Die Region gab 15 Mrd. Pfund mehr aus, als sie durch Steuern und Abgaben einnahm.
Dem EU-Beitrittskandidaten dürfte es auch nach der Pandemie schwerfallen, den Anforderungen des Europäischen Fiskalpakts nachzukommen, der ein Haushaltsdefizit von maximal 3 % des BIP vorschreibt. Schottland weist zudem ein erhebliches Leistungsbilanzdefizit auf. Es lag 2017 bei 7,6 % des BIP, im Jahr zuvor bei 10 %. Neuere Daten liegen nicht vor. Der Wirtschaftsprofessor Cédric Tille, der dem Bankrat der Schweizerischen Nationalbank angehört, empfahl dem Regierungschef eines unabhängigen Schottlands mit Blick auf Haushalts- und Leistungsbilanzdefizit, entweder die strukturellen Probleme anzugehen „oder gute Beziehungen zum IWF aufzubauen, weil er oder sie in Zukunft dessen Hilfe benötigen könnte“.