DIE NEUE LUST AM SOZIALISMUS - IM INTERVIEW: ACHIM TRUGER

"Nicht immer gleich die Systemfrage stellen"

Der Wirtschaftsweise fordert eine sachliche Debatte

"Nicht immer gleich die Systemfrage stellen"

Achim Truger ist Professor für Staatstätigkeiten und Staatsfinanzen am Institut für Sozioökonomie der Universität Duisburg-Essen und Mitglied im Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. Truger plädiert für eine sachliche Debatte um die richtige Balance zwischen Staat und Markt. Herr Truger, mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und dem Fall des Eisernen Vorhangs ist das Thema Sozialismus doch eigentlich Geschichte. Oder etwa nicht?Von dem wesentlichen Punkt mal ganz abgesehen, dass es sich um undemokratische politische Regime handelte, war die Planwirtschaft im real existierenden Sozialismus einfach ökonomisch unglaublich ineffizient. Das möchte wohl niemand wiederhaben. Es ist eine Schwäche der Debatte, dass bei Kritik an der sozialen und ökonomischen Lage in Deutschland schnell der Sozialismus-Vorwurf erhoben wird. Das erschwert eine sachliche Diskussion. Aber es gibt in Deutschland immer wieder Rufe nach Verstaatlichung, etwa von Automobilkonzernen, Wohnungen oder zuletzt Fluglinien, um übergeordnete Ziele zu erreichen. Ist das für Sie ein gangbarer Weg?Das ist eine weitere Schwäche der Debatte, diesmal von der anderen Seite, dass vorschnell und lautstark radikale Ansätze propagiert werden, anstatt sachlich nach pragmatischen Lösungen und Reformansätzen zu suchen. Dass es in allen drei von Ihnen genannten Bereichen ernsthafte Probleme gibt, kann man ja nicht bestreiten. Wenn es um ökologische Probleme geht, braucht es ganz klar staatliche Regulierung und preisliche Anreize. Und dass es vielfältige Arten von Marktversagen auf dem Wohnungsmarkt gibt, ist auch klar. Aber mir leuchtet nicht ein, warum man deshalb eine Verstaatlichung braucht. Welche Ursachen machen Sie für den Wunsch nach Verstaatlichung aus? Hat das System der Sozialen Marktwirtschaft – zumindest in Teilen – vielleicht versagt?Man muss ja nicht immer gleich die Systemfrage stellen. Ich deute die radikalen Vorstellungen aber durchaus auch als Reaktion auf langjährige politische Übertreibungen in die Gegenrichtung. Vor der Finanzkrise wurden Deregulierung, Privatisierung und der Rückzug des Staates quasi als Allheilmittel verkauft und vieles wurde auch umgesetzt. Öffentliche Leistungen und Investitionen wurden eingeschränkt, Unternehmen der Daseinsvorsorge großflächig privatisiert, die Finanz- und Arbeitsmärkte wurden dereguliert, Steuern stark gesenkt. Da herrschte zum Teil fast blindes Vertrauen in die Marktkräfte. Zudem hat der Staat in vielen Fällen Steuerungs- und Planungskapazitäten aus der Hand gegeben, die ihm nun das Gegensteuern erschweren. Mein Vorgänger im Sachverständigenrat, Peter Bofinger, nannte das einmal “Entstaatlichungspolitik”. Und in vielen Fällen, etwa bei der verfallenden Infrastruktur, der Wohnungsnot, der Angst vor Altersarmut, einer zunehmenden Schieflage in der Einkommensverteilung und den zunehmenden regionalen Unterschieden in den Lebensverhältnissen spüren viele Menschen nun die Nebenwirkungen dieser Politik. Was kann der Staat besser als marktwirtschaftliche Unternehmen, die im Wettbewerb stehen und auch Aktionärsinteressen befriedigen müssen?Die Erfahrung zeigt, wie zentral Märkte und Privateigentum für den Wohlstand sind, aber auch, dass es einige Bereiche gibt, die der Staat oder auch Genossenschaften gelegentlich besser organisieren können. Eine Verstaatlichung von Bäckereien, Handwerksbetrieben oder großen Unternehmen, nur weil sie groß sind, ist sicher nicht zu rechtfertigen. Aber in den Bereichen der Daseinsvorsorge und überall dort, wo es natürliche Monopole gibt, beispielsweise in der Wasserversorgung, den Stromnetzen, dem öffentlichen Personennahverkehr oder dem Wohnungswesen, kann eine staatliche oder genossenschaftliche Aufgabenerfüllung eine sinnvolle Alternative oder Ergänzung sein. Viele Kommunen haben sich mit großen Mehrheiten für Rekommunalisierungen ausgesprochen. Fehler des wirtschaftsliberalen Überschwangs der Privatisierungen der vergangenen zwei Jahrzehnte sollen so korrigiert werden. Ein privates Monopol ist meist die schlechteste Variante. Ein öffentliches Monopol ist aber nicht an sich gut, sondern auch hier bedarf es einer guten Unternehmensführung und einer funktionierenden Corporate Governance. Muss der Staat stärker regulierend eingreifen, um die Akzeptanz der Sozialen Marktwirtschaft zu erhöhen?Die Debatte um die richtige Balance zwischen Staat und Markt, zwischen privatem Profitstreben und Gemeinwohlorientierung, sollte ganz sachlich geführt werden. Das Modell der sozialen Marktwirtschaft war immer auch durch eine Pluralität der Eigentumsformen gekennzeichnet: Sparkassen und Genossenschaftsbanken haben viele Jahrzehnte Handwerk und Mittelstand verlässlich mit Krediten versorgt. Im Wohnungswesen war ein großer Anteil der Mietwohnungen dem Renditestreben privater Eigentümer entzogen. In Wien ist das immer noch der Fall, ohne dass der Sozialismus eingeführt worden wäre. In der Debatte um die richtige Mischung zwischen Markt und Staat sollte daher pragmatischer und weniger ideologiegetrieben argumentiert werden. Der Sachverständigenrat hat sich in seinem Gutachten 2017/18 auch mit der Frage der Ungleichheit befasst. Steigt die Ungleichheit bei Einkommen in Deutschland?Der Anstieg der Ungleichheit der Nettoeinkommen ist seit 2005 gebremst worden, war in den Jahren zuvor aber markant. Die allgemeine Ungleichheit, die Polarisierung zwischen reich und arm und die Armutsrisikoquote haben deutlich zugenommen. Erheblich zur Polarisierung beigetragen hat auch die steuerliche Entlastung hoher Einkommen seit der Jahrtausendwende. Die unteren 70 % der Bevölkerung zahlen heute insgesamt höhere Steuern und Abgaben, als sie das 1998 taten, während vor allem die oberen 10 % der Bevölkerung deutlich entlastet wurden. Die Fragen stellte Archibald Preuschat.