Parlamentswahl wird in Russland kaum Veränderungen bringen
Von Eduard Steiner, Moskau
So manche Wirtschaftsdaten aus Russland lassen den Westen vor Neid erblassen. Dennoch geht der Wohlstand seit Jahren zurück. Nach den Parlamentswahlen, die am heutigen Freitag starten und über das Wochenende andauern, wird sich daran wenig ändern.
„Das Parlament ist kein Ort für Diskussionen“, sagte Boris Gryslow, einstiger Vorsitzender und Ex-Chef der dominanten Kreml-Partei „Einiges Russland“, schon vor Jahren. Damit das auch so bleibt, griff die Regierung angesichts der Wahlen, zu der ernstzunehmende Kandidaten nicht zugelassen sind, zuletzt tief in die Tasche. Je 10000 Rubel (115 Euro) zusätzlich erhielt jeder der 42,8 Millionen Rentner. Militärangehörigen bekamen 15000 Rubel. Präsident Wladimir Putin begründet dies mit der Inflation, die im August auf 6,7% kletterte. Rentner und Staatsangestellte sind die Garanten, dass „Einiges Russland“ die Mehrheit in der Staatsduma behält und das System von Sicherheit, geopolitischer Ambition und rohstoffbasierter Staatswirtschaft zementiert wird.
Erkauft wird die allerdings mit dem seit 2014 – dem Jahr des Ölpreisverfalls und der Sanktionen infolge der Krim-Annexion – sinkendem Lebensstandard. Die real verfügbaren Einkommen fielen seither um über 10%. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP), das zuvor mit jährlichen Wachstumsraten von bis zu 7% glänzte, stieg zwischen 2013 und 2020 laut Statistikamt im Schnitt um 0,5%. Man muss das Glas deshalb nicht halb leer sehen. Gerade in der Corona-Pandemie hat sich die Wirtschaft als relativ robust erwiesen. So brach das BIP 2020 nur um gut 3% ein (siehe Grafik). Um den Preis höherer Infektions- und Todeszahlen hat die Regierung seltener einen Lockdown verhängt. Und der für Russland so entscheidende Ölpreis hat sich schneller erholt als vermutet, auch wenn er von alten Höhen noch weit entfernt ist. Dafür lässt die Staatsführung strenge Haushaltsdisziplin walten. Die Staatsverschuldung beträgt trotz jüngstem Anstieg nur knapp 18% des BIP. Und die internationalen Gold- und Währungsreserven liegen mit 620,8 Mrd. Dollar so hoch wie noch nie.
Der Goldschatz nützt nichts
Russland hat „einen Goldschatz für den schwarzen Tag“, wie Igor Nikolajew, Direktor des Moskauer Instituts für strategische Analysen, im Gespräch mit der „Börsen-Zeitung“ sagt. „Man kann darauf sitzen und damit leben. Allein, um sich zu entwickeln, reicht das nicht.“ Zwar wird das BIP laut Weltbank dieses und nächstes Jahr je 3,2% zulegen. Das Problem jedoch ist das Fehlen einer Entwicklungsperspektive, sodass mehreren Studien zufolge ein Jahrzehnt der Stagnation droht. Die wesentlichen Versäumnisse benennt Alexej Kudrin der einstige Finanzminister und nunmehrige Chef des Rechnungshofes in einem Interview: Russland habe es nicht geschafft, statt des nachfragegetriebenen Wachstumsmodells ein Modell zu etablieren, das von Investitionen getrieben werde und qualitativere Exportprodukte herstelle. „Das Umdenken fällt eben schwer, wenn das Huhn goldene Eier legt“, spielt Ökonom Nikolajew auf die verführerische Wirkung des Ölpreises an.
Heute besteht das Problem, dass sich der Staat aus Spargründen ebenso wie auch ausländische Investoren bei Investitionen zurückhalten. Gleichzeitig wird die globale Abkehr von fossilen Kohlenwasserstoffen Russland als zweitgrößten Ölexporteur schwer treffen.
Das lässt auch im Establishment viele nicht mehr kalt. Der Wohlstandsfonds, Russlands wichtigste Sparbüchse, die mit überschüssigen Einnahmen aus dem Ölexport gefüllt wird und nun über 190 Mrd. Dollar enthält, was 12,1% des BIP entspricht, könnte im Extremfall bis 2030 auf ein Volumen von 2 bis 3% des BIP schrumpfen, erklärte der stellvertretende Finanzminister Wladimir Kolytschew. Die grüne Wende ist nur eines der Riesenprobleme der russischen Wirtschaft. Ein anderes ist laut Nikolajew der Bevölkerungsschwund, der durch die Pandemie verschärft wurde, sodass er sich dieses Jahr auf über 800000 Personen belaufe. Dazu komme die niedrige Produktivität, weil administrative Hebel von oben echten Wettbewerb verhindern.
Dennoch wollen viele den Konnex zwischen Politik und sinkendem Wohlstand nicht sehen und werden auch diesmal für die herrschenden Verhältnisse stimmen. Dabei geben laut Meinungsforschungsinstitut „Levada-Center“ zwei Drittel – so viele wie noch nie – an, dass sie Russland lieber als „Land mit hohem Lebensstandard“ sehen würden und nicht als „Großmacht, die von anderen geachtet und gefürchtet wird“. Der Kreml aber bevorzugt Letzteres, weshalb auch weiter die sprichwörtliche russische Geduld gefragt ist. Woher sie kommt? Unter anderem daher, dass sich so viele in Kredite stürzen wie noch nie, um sich einen höheren Lebensstandard zu ermöglichen, so Nikolajew. Ein gefährlicher Kunstgriff. Die Zentralbank schlägt längst Alarm.