LEITARTIKEL

Peking im Schleudertrauma

Die immer heftigeren Rückschläge und wilden Umschwünge am chinesischen Aktienmarkt ziehen weltweit die Aufmerksamkeit auf sich. Es geht die Angst um, dass der trotz massiver staatlicher Stützungsoffensiven kaum zu stabilisierende Aktienmarkt schwere...

Peking im Schleudertrauma

Die immer heftigeren Rückschläge und wilden Umschwünge am chinesischen Aktienmarkt ziehen weltweit die Aufmerksamkeit auf sich. Es geht die Angst um, dass der trotz massiver staatlicher Stützungsoffensiven kaum zu stabilisierende Aktienmarkt schwere wirtschaftliche Verwerfungen nach sich zieht, die mit Blick auf Chinas Rolle als Rohstoffnachfrager und als Tummelplatz ausländischer Direktinvestoren zwangsläufig auf die Weltkonjunktur abfärben werden. Es hagelt zwar pessimistisch gestimmte Researchberichte ausländischer Ökonomen, doch gibt es bislang keine überzeugende Kausalketten, dass die verrückte Achterbahnfahrt an den chinesischen Börsen die Wirtschaft tatsächlich entgleisen lässt. Der Dienstleistungssektor zeigt sich von der enorm gesteigerten, aber freilich wenig nachhaltigen Finanzmarktaktivität eher angekurbelt. Im Industriesektor deuten sich zwar neue Wackler an, die aber kaum in einen direkten Zusammenhang mit dem Aktienmarktgeschehen gebracht werden können.Auf einem anderen Blatt steht die Frage, ob Chinas Finanz- und Kapitalmarktreformagenda, die als wesentlicher Motor für eine stärker marktwirtschaftliche Orientierung der Wirtschaft und den Übergang zu einem nachhaltigeren Wachstumsmodell gilt, mit den Ereignissen der letzten Wochen ins Schleudern kommt. Schließlich hat die Regierung die einer gigantischen Hausse folgende Korrekturwelle an den Börsen mit Blick auf Finanzstabilitätsgefahren und möglicherweise auch soziale Verwerfungen so nicht hinnehmen wollen. Mit einer Orgie an Restriktionen und Stützungsmaßnahmen versucht man einerseits, die nach dem Platzen einer Spekulationsblase eigentlich zwangsläufige Abverkaufswelle durch Handelsaussetzungen und Beschränkungen für Baissespekulation zu unterbinden, und andererseits, mit gezielten Interventionen von staatlichen Stellen und Finanzinstituten die Leitindizes in die gewünschte Richtung zu ziehen.Die Art und Weise, wie Peking in den Preisfindungsprozess am Aktienmarkt eingreift, stößt international auf heftige Kritik. Hätte man den Aktienmarkt nach einer so heftigen Hausse einer freien Korrekturbewegung überlassen sollen? Dass man in Peking dazu nicht die Nerven hatte, liegt an der exponierten Rolle der Abermillionen von Kleinanlegern an Chinas Börsen. Das weckt Schutzinstinkte. In westlichen Ländern hat man im Zuge der Finanzkrise schließlich auch nicht gezögert, mit massiven staatlichen Interventionen Marktprozesse auszuhebeln und ins Bankwesen einzugreifen, um Bedrohungen für Kleinsparer abzuwenden.Chinas Reformplaner haben zweifelsohne einen Schock erlitten und sind vorerst mit einer gewissen Halsstarre auf den Aktienmarkt fixiert. Die Verspannungen werden sich aber wieder lösen. Mittlerweile wächst das Unbehagen darüber, dass das Manöver ganz und gar nicht zur propagierten Linie einer stärkeren Kapitalmarktorientierung und zum freien Spiel der Marktkräfte passt. Zudem droht dies auch Pekings Reformbotschaften zu diskreditieren. Im Zweifelsfall wird sich die Regierung nun erst recht aus dem Fenster lehnen, um andere Aspekte der Finanzreform anzugehen. Die Zentralbank dürfte neue erforderliche Zinssenkungen zum Anlass nehmen, die völlige Beweglichkeit der Einlagenzinsen als wichtigste Etappe der Zinsliberalisierungsagenda zuzulassen. Auf der Währungsseite legt man sich besonders ins Zeug und verspricht neue Flexibilisierungsschritte für den Yuan und eine verstärkte Öffnung der Bondmärkte für ausländische Investoren, die ihm den Weg zu einer Anerkennung als internationale Reservewährung ebnen helfen sollen.Chinas Aktienkrise hat den Manövrierraum der Regierung wieder eingeengt und noch deutlicher gemacht, welchen schwierigen Anpassungsprozessen der wirtschaftliche Reformkurs ausgesetzt ist. Rosige Szenarien, wonach boomende Börsen und Neuemissionswellen riesige Eigenkapitalreservoirs für Chinas Unternehmen öffnen und das Verschuldungsproblem der Wirtschaft geradezu spielerisch abgebauen könnten, sind zerplatzt. Auch die stärkere Hinwendung der Staatsunternehmen zum Kapitalmarkt ist nun größeren Belastungsproben ausgesetzt. Das heißt aber noch lange nicht, dass der ganze Reformprozess ausgehebelt wird. Vielleicht ist es sogar zu begrüßen, dass Chinas Reformarchitekten im Anlauf auf den neuen Fünfjahresplan für 2016 bis 2020 jetzt auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt werden und die Agenda nun auch von den Erfahrungen der geplatzten Spekulationsblase beeinflusst wird.——–Von Norbert HellmannChinas harte Eingriffe am Aktienmarkt sind eine Schockreaktion. Nun wird die gesamte Reformagenda für den Kapitalmarkt neuen Spannungen ausgesetzt.——-