Peronist Alberto Fernández vor Sieg in Argentinien
Von Andreas Fink, Buenos AiresAlberto Fernández wird die argentinischen Präsidentschaftswahlen gewinnen. Das scheint aufgrund seines 17-Prozent-Vorsprungs in den allgemeinen Vorwahlen vom 11. August festzustehen. Unklar ist freilich noch, ob der Spitzenkandidat der oppositionellen peronistischen “Frente de Todos” (Front aus allen) die erforderlichen 45 % der Stimmen im ersten Anlauf gewinnt oder ob es nicht doch noch zu einer Stichwahl im November kommt.Die meisten Umfrageinstitute kündigen einen Erstrundensieg für Fernández an. Aber nach einer vierwöchigen Wahlkampftour durch das Landesinnere konnte der Amtsinhaber Mauricio Macri vorigen Samstag etwa eine halbe Million Anhänger im Zentrum von Buenos Aires versammeln. Nun hoffen die Funktionäre von Macris Koalition “Juntos por el Cambio” (gemeinsam für den Wandel) durch eine höhere Wählermobilisierung und verbesserte Kontrollen in den Wahllokalen eine zweite Runde zu erstreiten.Bei den Vorwahlen erreichte der 60-jährige Peronist Fernández etwa 49,5 % der Stimmen, während der Amtsinhaber nur auf knapp 33 % kam, weitaus weniger, als von den meisten Demoskopen – und auch vielen Anlegern – erwartet worden war. Debakel an FinanzplätzenDarum folgte dem Debakel an den Urnen ein zweites an den Finanzplätzen. Am 12. August fiel die Börse in Buenos Aires binnen weniger Stunden um historische 48 % und der Peso verlor nach zwei kräftigen Abwertungen im Jahr 2018 ein weiteres Viertel seines Wertes.Nach vierjähriger Amtszeit hinterlässt Macri nun sein Land in noch schlimmerem Zustand, als er es von der Amtsvorgängerin Cristina Kirchner übernommen hatte: 55 % Inflation, 10,1 % Arbeitslosigkeit und eine Armutsquote von über 35 %. Vor allem aber akkumulierte Macri etwa 80 Mrd. Dollar an Schulden bei privaten Investoren und dem Internationalen Währungsfonds (IWF), welche das ausgeblutete Land nicht zurückzahlen und womöglich nicht einmal bedienen kann.Nach dem Absturz im August verhängte Macris inzwischen vierter Finanzminister Hernán Lacunza Kapitalkontrollen, ähnlich jenen, die der erste Finanzminister Alfonso Prat-Gay Ende 2015 abgeschafft hatte. Und Lacunza verlängerte ebenfalls einseitig die Fälligkeitstermine für kurzfristige Anleihen, was die Ratingagenturen als teilweisen Zahlungsausfall werteten, wie zuletzt 2014, als die US-Justiz den Schuldendienst unterbrach, nachdem Präsidentin Cristina Kirchner sich geweigert hatte, die Hold-outs des Staatsbankrotts von 2001 auszuzahlen.Die kontroverse Kirchner war in den vergangenen Wochen wohl die wichtigste Wahlhelferin in Macris Aufholkampagne. Allein die Furcht vor einer Rückkehr der umstrittenen Ex-Präsidentin begründet den immer noch erheblichen Rückhalt für Macri. Und sie erklärt die erheblichen Vorbehalte vieler Investoren gegenüber dem wahrscheinlichen Wahlsieger, der vor einem halben Jahr noch nicht einmal wusste, dass er Kandidat für den Spitzenjob werden könnte. Fernández wurde von keinem Parteitag bestimmt, für seine Kandidatur reichte einzig der Willen der Peronistin mit dem meisten Gefolge: Kirchner verkündete Ende Mai in einer Videobotschaft, sie wolle für die Vizepräsidentschaft kandidieren, Fernández werde um das erste Staatsamt streiten. Diese Rochade durchkreuzte den Plan des Präsidenten Macri, der kalkuliert hatte, im Wettstreit mit der in weiten Kreisen ungeliebten Kirchner als geringeres Übel zu obsiegen – allen wirtschaftlichen Problemen zum Trotz. Breite Front gegen MacriDoch die Kür von Fernández, der 2003 Kabinettschef von Néstor Kirchner gewesen und der 2008 im Streit mit Cristina Kirchner aus der Regierung geschieden war, ermöglichte es, weite Teile des zerfallenen peronistischen Bogens und die meisten Provinzgouverneure in eine breite Front gegen Macri zu bringen. Für einen Wahlsieg dürfte diese Koalition wohl halten. Doch wie lange die Union aus konservativen Landesfürsten, korruptionsverdächtigen Gewerkschaftsbossen, Globalisierungsgegnern, linken Basisgruppen, militanten Arbeitslosenvertretern sowie der politischen Leibgarde des Kirchner-Clans halten wird, wenn nach dem Amtsantritt am 10. Dezember schnelle und einschneidende Maßnahmen zu beschließen sind, wagt niemand zu prognostizieren. Aus dem Umfeld des Kandidaten Fernández ist zu erfahren, dass dieser mehr Sorge vor dem Widerstand in den eigenen Reihen habe als vor dem politischen Gegner Macri.Sicher ist, dass Argentiniens kommender Präsident extrem wenig Spielraum haben wird, denn die finanzielle Situation des Landes ist extrem delikat. Der künftige Finanzminister muss darum:Erstens: Ausgaben reduzieren und Einnahmen erhöhen, um von einem Primärbudgetdefizit von aktuell etwa 2 % des geschätzten Bruttoinlandsproduktes (BIP) bis 2020 auf einen Überschuss von 1 % zu kommen. Auf Basis dieser Berechnungen wird er noch vor Weihnachten den Haushalt durch das am Sonntag ebenfalls neu zu wählende Parlament bringen müssen.Zweitens: Schnelle Neuverhandlungen mit dem IWF anstreben, um die noch ausstehenden Auszahlungen des 2018 vereinbarten Stand-by-Kredits zu aktivieren. Bislang hat Argentinien etwa 44 Mrd. Dollar der vereinbarten 57 Mrd. Dollar erhalten, weitere 5 Mrd. Dollar hätten im September angewiesen werden sollen, wurden aber nach den Turbulenzen im August auf Halten gestellt.Und schließlich drittens: Privaten Anlegern ein Angebot zur “Reprofilierung” von Fälligkeitsterminen für Schulden in Peso und Dollar nach argentinischer und New Yorker Gesetzgebung unterbreiten. Dieses muss wiederum mit dem IWF abgestimmt sein. Der Währungsfonds möchte nicht riskieren, öffentliche Gelder stunden zu müssen, damit Argentinien private Gläubiger voll auszahlt. Daher dürfte der Fonds verlangen, dass private Gläubiger auf einen Teil ihrer Anlagen verzichten, um seinerseits die Rückzahlung für den Stand-by-Kredit, die 2021 beginnen soll, um mehrere Jahre aufzuschieben.Wer diese äußerst komplexe Aufgabe des Finanzministers in einer von ihm geführten Regierung übernehmen soll, wollte Fernández noch nicht preisgeben. Investoren in New York und Argentinien hoffen, dass Fernández einen erfahrenen und orthodoxen Ökonomen ernennen werde. Sollte er jedoch einen seiner heterodoxen Berater zum Ressortchef machen, dürften die Märkte mit weiteren Verkäufen argentinischer Titel reagieren. Der höchstgehandelte Kandidat ist Martín Redrado, der, ausgebildet in Harvard, zwischen 2004 und 2010 die Zentralbank geleitet hatte. Auch er war – wie Alberto Fernández – vorzeitig aus der öffentlichen Funktion geschieden, ob seines Zerwürfnisses mit Cristina Kirchner.Die Ex-Präsidentin mied den Wahlkampf weitgehend, offenbar um möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten. Denn nicht weniger als 13 Strafverfahren sind gegen sie eröffnet worden, fünfmal wurde Haftbefehl erlassen, denen sie nur entkommen konnte, weil sie seit 2017 Mitglied des Senats ist, den sie ab Dezember wohl leiten wird – die Vizepräsidenten führen in Argentinien die zweite Parlamentskammer. Über ihr künftiges Einwirken auf die Tagespolitik sind sich die Argentinier noch nicht einig. Kirchner hat ihren Einfluss vor allem bei der Aufstellung der Wahllisten wirken lassen und sich so im Kongress und Senat eine erhebliche und verlässliche Machtbasis gesichert, die zum Teil aus der “La Campora” besteht, jener straffen Jugendorganisation, die Kirchners Sohn Máximo führt. Der Erstgeborene steht auf einem der ersten Listenplätze für den Kongress und hält sich ebenfalls die Justiz vom Hals, auch er ist mehrfach der Korruption angeklagt. Straffreiheit für KirchnerNicht wenige glauben, dass es Kirchner vor allem um die Straffreiheit für sie und ihre Familie gehe und womöglich auch um ihr historisches Image als Reinkarnation der Volksheldin Eva Perón. Angesichts der bedrohlichen Kassenlage verzichte Kirchner auf eine Rückkehr an die Macht, um ihr Vermächtnis nicht mit schmerzvollen Konzessionen an den IWF oder Gipfel-Fotos mit Antipoden wie Donald Trump oder Jair Bolsonaro zu entwerten. Andere wiederum argwöhnen, dass Kirchner Fernández ins offene Messer der Gläubiger schicken könnte, um nach dessen allfälligem Scheitern wieder selbst die Zügel zu übernehmen und das Land nach einem Staatsbankrott in Richtung von Venezuela zu führen.Alberto Fernández kennt im Gegensatz zum oftmals allzu unbedarften Macri die politischen Couloirs seit Jahrzehnten und hat dort bereits an vielen Strippen gezogen. Er dürfte eine ungefähre Vorstellung davon haben, was ihn erwartet. Immerhin: Im Wahlkampf konnte er es sich dank des deutlichen Vorwahlsieges leisten, kaum unhaltbare Versprechen abzugeben. Und auf viele konkrete Fragen schwammig zu antworten. Sollte Alberto Fernández am Sonntagabend gewinnen, wird er am Montagmorgen um deutliche Ansagen nicht herumkommen. In den sechs Wochen bis zum Amtsantritt am 10. Dezember kann sich Argentiniens Lage noch einmal drastisch verschlechtern.