Nach der Steuererhöhung ist vor der Steuererhöhung
Nach der Steuererhöhung ist vor der Steuererhöhung
Die britische Schatzkanzlerin Rachel Reeves braucht dringend Geld. Ihre jüngsten Maßnahmen stellen bestenfalls den minimalen Handlungsspielraum vom Oktober wieder her.
Von Andreas Hippin, London
Die britische Schatzkanzlerin Rachel Reeves hat ein Problem. Zwar brachte sie ihre fiskalpolitische Bestandsaufnahme sechs Monate nach ihrem Haushaltsentwurf ohne weitere Steuererhöhungen über die Bühne. Doch stellen die von ihr angekündigten Einsparungen und Sozialleistungskürzungen bestenfalls den minimalen Handlungsspielraum wieder her, den sie im Oktober vergangenen Jahres hatte.
Zu den Voraussetzungen dafür gehört, dass die Steuereinnahmen bis 2029/30 durch Maßnahmen gegen Steuervermeidung und -hinterziehung um 2 Mrd. Pfund pro Jahr erhöht werden können. Finanzpolitiker rechnen sich gerne mit fiktiven Einnahmen ihren Haushalt schön. Schließlich lässt sich damit so manche Lücke schließen.
Regeln nicht gebrochen
Reeves kann sich rühmen, ihre „eisernen“ fiskalischen Regeln nicht gebrochen zu haben. Üblicherweise werden die Vorhersagen jedoch nicht Wirklichkeit. Deshalb wird bereits darüber spekuliert, welche Steuern erhöht werden, wenn sie im Oktober ihren nächsten Haushalt vorlegt.

„Der niedrige Spielraum von 9,9 Mrd. Pfund erhöht das Risiko stärkeren korrektiven Handelns im Herbst (inklusive Steuererhöhungen), sollten sich die Prognosen gegen die Schatzkanzlerin bewegen“, schrieb die für Großbritannien zuständige Volkswirtin Sonali Punhani von Bank of America.
Priorisierung von „Net Zero“
Die Wirtschaftsentwicklung spielt Reeves nicht in die Hände. Das dringend benötigte Wachstum will sich nicht einstellen, nicht zuletzt auf Grund von falschen Weichenstellungen. Die unabhängigen Haushaltshüter des Office for Budget Responsibility (OBR) reduzierten ihre Wachstumsprognose für 2025 von 2% auf 1%. Die in Reeves' Spring Statement" verkündeten Maßnahmen liefern nach ihrer Schätzung am Ende des Jahrzehnts lediglich 0,2 Prozentpunkte mehr Wachstum.
Die Priorisierung von „Net Zero“ dürfte dafür sorgen, dass es in Großbritannien schon bald keine Rohstahlproduktion mehr geben wird. Die chinesische Jingye droht, die beiden verbliebenen Hochöfen im Werk Scunthorpe für immer herunterzufahren. Die chemische Industrie steht mit dem Rücken zur Wand. Ineos schloss vor kurzem ihre Raffnierie im schottischen Grangemouth.
Chemiebranche unter Druck
Die 2,2 Mrd. Pfund zusätzlich, die Reeves für die großspurig angekündigte Wiederbewaffnung Europas übrig hat, werden keinen potenziellen Gegner abschrecken. Wollte man ernsthaft aufrüsten, bräuchte man eine gesunde Schwerindustrie.
„Die De-Industrialisierung Großbritanniens bringt der Umwelt nichts“, sagte Ineos-Chairman Jim Ratcliffe. „Sie verlegt nur Produktion und Emissionen anderswohin.“ Großbritannien brauche ein qualitativ hochwertiges verarbeitendes Gewerbe und die damit verbundenen Jobs. „Wir beobachten die Vernichtung einer unserer wichtigsten Branchen, wenn der chemischen Industrie das Lebenslicht ausgelöscht wird“, sagte Ratcliffe.
In den vergangenen fünf Jahren seien zehn große Chemiewerke geschlossen worden, moniert Ratcliffe. Seit einer Generation habe man kein einziges Werk neu gebaut. Die Energiepreise hätten sich binnen fünf Jahren verdoppelt. Sie seien fünf Mal so hoch wie in den USA. Mit derart enormen Standortnachteilen sei Großbritannien nicht wettbewerbsfähig.
Höhere Sozialversicherungsbeiträge
Die britische Autobranche produzierte im vergangenen Jahr so wenige Kraftfahrzeuge wie zuletzt 1954. Neben der Umstellung der Produktion auf Batterieautos trug dazu auch die schwache Verbrauchernachfrage nach Elektrofahrzeugen bei.
Diesen Monat greift die Erhöhung der Sozialversicherungsbeiträge für Arbeitgeber, die bereits in den vergangenen Wochen das Geschäftsklima und damit auch die Bereitschaft zu Investitionen und Neueinstellungen belastet hatte. Denn Reeves setzte nicht nur den Betragssatz nach oben. Sie halbierte auch die Einkommensschwelle, ab der Beiträge erhoben werden.
Anziehende Inflation
Zudem steigen im April wie in jedem Jahr die Preise für eine ganze Reihe von Dingen, darunter Strom, Gas und Telekomdienstleistungen. Der Mindestlohn wird über die Teuerungsrate hinaus gesteigert. Die OBR-Ökonomen erhöhten ihre Prognose für die Inflation im laufenden Jahr um 0,6 Prozentpunkte auf 3,2%. Der Preisauftrieb dürfte im Juli seinen Höhepunkt erreichen, wenn die Lebensmittelpreise zulegen und sich höhere Wasserrechnungen bemerkbar machen.
Die Bank of England dämpfte zuletzt Zinssenkungserwartungen. Das bedeutet steigende Kosten für die Neuverschuldung – nicht nur für Unternehmen, sondern auch für den Staat. Der Nachlass bei der Gewerbeimmobiliensteuer, der seit der Pandemie viele Firmen, vor allem in Gastronomie und Einzelhandel, über Wasser hielt, wird reduziert. An diesem Mittwoch kündigt US-Präsident Donald Trump unter dem Titel „Liberation Day“ Einfuhrzölle an, die auch die britische Exportwirtschaft empfindlich treffen dürften.
Ungewissheit hat ihren Preis
All das sorgt für Ungewissheit, die das Investitionsklima nicht verbessern wird. „Wir können jetzt mit Sicherheit damit rechnen, dass sechs oder sieben Monate lang darüber spekuliert wird, welche Steuern vielleicht im Herbst erhöht oder nicht erhöht werden", sagte Paul Johnson, Direktor des Institute for Fiscal Studies. „Diese Ungewissheit hat einen Preis, sowohl einen politischen als auch einen wirtschaftlichen. Die Regierung wird die politischen Kosten tragen. Wir werden die wirtschaftlichen Kosten tragen.“
Viele Volkswirte kritisierten die Annahmen des OBR als zu optimistisch. Es unterstellt unter anderem mittelfristig einen starken Anstieg der Produktivität, ohne näher zu erklären, wie es dazu kommen soll. Ein geringeres Produktivitätswachstum würde zu einem niedrigeren nominalen Bruttoinlandsprodukt führen und damit zu geringeren staatlichen Einnahmen und höheren Ausgaben.
Produktivität macht Probleme
Aus Sicht von James Sproule, des für Großbritannien zuständigen Volkswirts von Handelsbanken, ist das Erreichen der Prognosen des OBR von drei Dingen abhängig: einer Verdoppelung der Produktivität im Vergleich zum seit der Finanzkrise festgestellten Trend, echten Output-Steigerungen durch die Reform des Planungssystems und der tatsächlichen Durchführung der Reformen des Sozialstaats.
Die Expansion des öffentlichen Diensts unter Labour dürfte der Steigerung der Produktivität nicht förderlich sein. Die Streichung von Sozialleistungen dürfte jahrelange gerichtliche Auseinandersetzungen nach sich ziehen. Dass sich dennoch keine Unruhe am Bondmarkt einstellen wollte, liegt am geschickten Timing der Schuldenagentur DMO (Debt Management Office) für die kommenden Emissionen von Staatsanleihen (Gilts).
Geschicktes Timing
Im Fiskaljahr 2025/26 sollen Gilts für 299,2 Mrd. Pfund begeben werden. Das entspricht dem unteren Ende der Erwartungen, die zuvor kursierten.
Mittelfristig werden sich die Marktteilnehmer aus Sicht von Sam Hill, Head of Market Insight der Lloyds Banking Group, wohl stärker auf Risiken und Konsequenzen einiger OBR-Prognosen konzentrieren. Die Vorhersagen sind ihm zufolge im Vergleich zur jüngsten Performance optimistisch, insbesondere die für Produktivität und Potentialwachstum. Schon kleinste Veränderungen des Makro-Ausblicks könnten den finanziellen Spielraum der Regierung ausradieren.