Reform des Stabilitätspakts: Schlimmer geht immer!
Gastbeitrag: Dieter Smeets
Reform des Stabilitätspakts: Schlimmer geht immer!
Warum die europäische Reform des Stabilitäts- und Wachstumspakts nur formal zu mehr fiskalischer Disziplin führt, real aber mehr Ausgabenanreize setzt
25 Jahre nach der Einführung des Euro haben sich die Finanzminister der EU kurz vor Weihnachten auf einen gemeinsamen Vorschlag zur nun – nach 2005 und 2011 – dritten Reform des Stabilitäts- und Wachstumspakts (SWP) geeinigt. Vor dem Hintergrund der aktuellen finanzpolitischen Lage wichtiger EU-Mitgliedsländer wie Frankreich und Italien wäre es sicher naiv gewesen, auf strenge (automatische) Regeln zur Begrenzung bzw. Rückführung der Verschuldung im Rahmen dieser Reform zu hoffen. Das inzwischen vorliegende Ergebnis führt aber im Gegenteil jetzt dazu, dass die Stabilitätsanforderungen auf ein Minimum reduziert und durch zahlreiche Ausnahmen weiter ausgehöhlt werden!
Die Reformvorschläge sind zunächst durch die unveränderten Grenzwerte von 3% für die Defizitquote und 60% für die Schuldenstandsquote – jeweils bezogen auf das nominale BIP – gekennzeichnet. Diese auf den ersten Blick „vertrauten“ Grenzwerte sollen eine weiterhin „strenge“ Auslegung des SWP suggerieren. Der Kern der Reform ist hingegen in der korrektiven Komponente des SWP zu finden, deren Regelungen dann zur Anwendung kommen, wenn ein übermäßiges Defizit vorliegt oder die Schuldenstandsquote nur unzureichend abgebaut wird.
Überschreitet ein Mitgliedsland die Defizitgrenze, so soll die Kommission künftig mithilfe eines vorgegebenen Zielpfads nicht nur sicherstellen, dass nach Ablauf eines vierjährigen Anpassungszeitraums das öffentliche Defizit wieder unter den Referenzwert gesenkt und gehalten wird, sondern auch, dass die Anpassung – „falls erforderlich“, was einen großen Interpretationsspielraum eröffnet – so lange fortgesetzt wird, bis das betroffene Land ein konjunkturbereinigtes Defizit von 1,5% des BIP erreicht. Dadurch soll eine „Sicherheitsmarge“ (deficit safeguard) gebildet werden, um bei einem Konjunkturabschwung und anderen negativen Schocks einen hinreichenden Reaktionsspielraum für (antizyklische) wirtschaftspolitische Stabilisierungsmaßnahmen zu haben. Darüber hinaus soll der Korrekturpfad, der ausschließlich an den – unter unmittelbarer Kontrolle des Staates stehenden – Netto-Primärausgaben ansetzt, mit einer jährlichen Anpassung von mindestens 0,5 Prozentpunkten vereinbar sein.
Von diesen (Neu-)Regelungen gibt es jedoch gravierende Ausnahmen: So hat Brüssel für die Jahre 2025 bis 2027 bei der Einleitung eines Defizitverfahrens einen (zusätzlichen) Ermessensspielraum, um auf steigende Zinsbelastungen zu reagieren. Ferner sollen zusätzliche Staatsausgaben erlaubt – ja sogar ermuntert oder gefordert – werden, um Investitionen in die grüne Transformation, Digitalisierung und Verteidigung zu ermöglichen. Dies kann einhergehen mit einer Verlängerung des Zeitraums für die Haushaltsanpassung von insgesamt bis zu 7 Jahren. Offen bleibt dabei aber, was unter den Begriff der Investition selbst fällt.
Unklar bleibt darüber hinaus, welche Bedeutung dem bisherigen mittelfristigen Ziel eines im Grundsatz strukturell ausgeglichenen Haushalts in Zukunft noch beigemessen wird. Die Kommission soll zwar einen Bericht erstellen, wenn der Haushalt nicht nahezu ausgeglichen ist, was als ein Defizit von bis zu 0,5% definiert wird; die Ziele im Rahmen des Defizitverfahrens deuten aber eher darauf hin, dass wieder ein stärkerer Fokus auf das maximale Defizit von 3% gelegt wird. Daran ändert auch die mögliche Berücksichtigung der Sicherheitsmarge wenig. Neben den unmittelbaren Effekten birgt ein durch Ausnahmen begünstigter Defizitanstieg zugleich aber auch Gefahren für die längerfristige Entwicklung der Schuldenstandsquote.
Abschied von Referenzwerten
Unter den bisherigen Regelungen sollten alle Länder einheitlich jenen Teil der Gesamtverschuldung, der die Grenze von 60% übersteigt, innerhalb von 20 Jahren abbauen. Dagegen sieht der Reformvorschlag nun vor, dass Länder mit einer Quote von über 90% diese um mindestens einen Prozentpunkt pro Jahr abbauen müssen. Im Bereich zwischen 60 und 90% muss der Abbau „nur“ noch mit einer Rate von 0,5 Prozentpunkten erfolgen.
Die aus diesen Mindestanforderungen resultierenden (maximalen) Anpassungszeiträume bewegen sich unter den gegenwärtigen Bedingungen zwischen 9 Jahren für Deutschland und 135 Jahren für Griechenland. Für Italien ergeben sich 111 und für Frankreich 81 Jahre. Vor diesem Hintergrund kann man nur dem Bundesrechnungshof beipflichten, für den (Anpassungs-)Zeiträume von 60 Jahren oder mehr praktisch einen Abschied von den Referenzwerten bedeuten.
Das Kernproblem des SWP bleibt aber dessen Durchsetzung. Die Vergangenheit hat gezeigt, dass politische Einflüsse stets einer strikten Umsetzung entgegenstanden. Dass dies auch in Zukunft so bleiben wird, machen erste Ankündigungen bereits deutlich. So meinte der Vizepräsident der EU-Kommission, Valdis Dombrovskis, dass Strafen auch in Zukunft nur „der letzte Ausweg“ seien und dass es künftig möglich sein solle, auch mildere Sanktionen anzuwenden.
Insofern verfügt Brüssel weiterhin über einen umfangreichen, gar noch erweiterten Ermessensspielraum. Die Neuregelungen sehen obendrein nicht vor, die entsprechenden Kompetenzen von der Kommission auf eine unabhängige Institution zu übertragen. Es ist lediglich geplant, dem 2016 gegründeten unabhängigen Europäischen Fiskalausschuss (European Fiscal Board) eine beobachtende und beratende Rolle in dem gesamten Prozess zu geben.
Ob man vor diesem Hintergrund der EU insgesamt mit einer Reform dient, bei der die Grenzen der Verschuldung so niedrig wie möglich gesetzt werden und gleichzeitig ihre Bedeutung durch die Förderung von schuldenfinanzierten Investitionsausgaben weiter ausgehöhlt wird, erscheint mehr als fragwürdig.