LEITARTIKEL

Reformblockade

Das Land fährt von Jahr zu Jahr Exporterfolge ein, und die Zahl der Erwerbstätigen hat einen neuen Rekord erreicht. Selbst die Finanzkrise konnte der Wirtschaft kaum etwas anhaben, vielmehr starteten die Unternehmen kurz danach erst so richtig...

Reformblockade

Das Land fährt von Jahr zu Jahr Exporterfolge ein, und die Zahl der Erwerbstätigen hat einen neuen Rekord erreicht. Selbst die Finanzkrise konnte der Wirtschaft kaum etwas anhaben, vielmehr starteten die Unternehmen kurz danach erst so richtig durch. Im Ausland spricht man von einem “Arbeitsmarktwunder”. Die Rede ist von Deutschland, das vor zehn Jahren noch als “kranker Mann Europas” tituliert worden war. Die Wachstumserfolge haben inzwischen dazu beigetragen, die Staatsfinanzen zu stabilisieren und das Defizit auf null zurückzufahren. In der Euro-Krise setzen die Krisenländer deshalb auf Berlin als Financier. Trotz dieser Belastung halten die Ratingagenturen an der Bonitätsbestnote fest.Zweifelsohne waren die vom damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder vor zehn Jahren angekündigten und bis 2005 umgesetzten Reformen der “Agenda 2010” der Impuls für die ökonomische Trendwende. Der Arbeitsmarkt wurde flexibilisiert, Entlassungs- und Einstellungshürden wurden gesenkt, über neue Beschäftigungsformen wurde Druck auf die Löhne ausgeübt und die Anreize zur Arbeitsaufnahme von Arbeitslosen wurden verstärkt. Auch die Arbeitsvermittlung wurde verbessert und die Kostendynamik in den Sozialkassen gebremst. Dass diese Reformen zu den Beschäftigungserfolgen beigetragen haben, ist unstrittig. Doch sie waren es nicht allein. Auch die konservative Strukturpolitik trug dazu bei. Denn Deutschland ist den Sirenengesängen der Ökonomen nicht gefolgt, seine Wirtschaft zur Dienstleistungsgesellschaft umzubauen, wie das Großbritannien getan hat. Als dann auf dem Weltmarkt Investitions- und Konsumgüter verlangt wurden, konnten die deutschen Unternehmen sofort liefern. Durch die Agendareformen auf Wettbewerbsfähigkeit getrimmt, schnitt sich die hiesige Wirtschaft ein großes Stück aus dem Weltmarkt heraus – und schuf neue Jobs zu Hause.Angesichts der inzwischen wieder aufflammenden Proteste gegen “Hartz IV”, die vierte Welle der Agendareformen, wird allerdings die Frage aufgeworfen, zu welchem Preis die Erfolge eingefahren wurden. Von “sozialer Abrissbirne” und von “Entsolidarisierung” ist die Rede. Tatsächlich räumen selbst Befürworter der Agendapolitik ein, dass eine Reihe von Eingriffen zu unerwarteten sozialen Wechselwirkungen geführt haben, etwa was die Aufspaltung von Vollzeitarbeitsplätzen in Minijobs angeht oder die Umwidmung von Arbeitsplätzen in Jobs für Leiharbeiter. Inwieweit die als “Armutslöhne” gescholtenen Sätze für Langzeitarbeitslose (Hartz IV) noch als akzeptabel gelten, ist indes eine Frage der politischen Abwägung. Neben diversen Wunschvorstellungen hat sich die Politik dabei allerdings vor Augen zu führen, dass Hartz IV aus Steuermitteln finanziert wird, die etwa auch Normalverdiener aufbringen, und sie muss darauf achten, das Lohnabstandsgebot zu wahren, um den Anreiz zur Arbeitsaufnahme zu erhalten. Zudem hat das aktuelle Anreizsystem ja immerhin dazu beigetragen, die Zahl der Arbeitslosen von 5 Millionen auf 3 Millionen zu reduzieren. Sozial ist, was Arbeit schafft, heißt es. Insofern wirken die Reformen.Aber wie nachhaltig sind sie? Allseits wird Deutschland derzeit für seine stabile Wirtschaft gelobt. Dabei lässt die Selbstzufriedenheit die Politik bereits wieder in alte Verhaltensweisen fallen: Die Arbeitskosten steigen, neue Regulierungen und Steuererhöhungen sind im Gespräch, ein Teil der Reformen droht verwässert oder rückabgewickelt zu werden und es fehlt allenthalben an Wachstumsimpulsen. Obendrein gefährdet die Energiewende durch ihren Kostenschub die Wettbewerbsfähigkeit. Die Verunsicherung darüber und über den wirtschaftspolitischen Kurs insgesamt hat bereits zu einer gefährlichen Investitionszurückhaltung geführt. Seit Jahren dümpelt die Investitionsquote bei 18 % des Bruttoinlandsprodukts – weit unter dem europäischen Durchschnitt. Unsere Kapitalbasis zerbröselt. Im nächsten Konjunkturzyklus kann das die heimische Wirtschaft teuer zu stehen kommen.Woran es Deutschland heute fehlt, ist eine neue Reformagenda, welche die Leitlinien der Politik der nächsten Jahre skizziert und damit den Investoren Planungssicherheit gibt. Baustellen gibt es genug: die Investitionsschwäche, die unzureichende digitale Infrastruktur, das Bildungssystem und die demografische Herausforderung. Aber das politische Personal, das sich um diese Standortfragen kümmern sollte, ist weit und breit nicht zu sehen. Opportunismus bestimmt das Handeln, nicht die Verpflichtung auf das Gemeinwohl. Um eine neue Agenda anzugehen, müsste man also den politischen Betrieb reformieren, um die Reformblockaden zu lösen.——–Von Stephan Lorz ——- Die “Agenda 2010” hat Deutschland ein Arbeitsmarktwunder beschert. Statt den Standort nun mit neuen Reformen abzusichern, aalt sich Berlin in Selbstzufriedenheit.