Streikchaos weitet sich aus
Von Andreas Hippin, London
Streikmüdigkeit kann man den 40 000 Mitgliedern der britischen Gewerkschaft RMT nun wirklich nicht vorwerfen. Diese Woche legen sie gleich an vier Tagen den britischen Schienenverkehr lahm. Viele Innenstädte gleichen am Dienstag Geisterstädten glichen, weil es viele Menschen vorzogen, von zuhause zu arbeiten. Bahnkunden war geraten worden, „nur wenn unbedingt nötig“ auf den Schienenverkehr zurückzugreifen. Für viele ist das eine praktikable Alternative. Das während der Pandemie als Notlösung eingerichtete Homeoffice erfreut sich wachsender Beliebtheit. RMT-Chef Mick Lynch drohte zwar, die Arbeitskampfmaßnahmen bis in den Sommer fortzusetzen, und am Donnerstag wollen auch noch die in der Gewerkschaft ASLEF organisierten Lokführer in den Ausstand treten. Doch verfügen die Eisenbahner in der Öffentlichkeit nicht über den Rückhalt in der Bevölkerung, den etwa die Krankenschwestern des National Health Service (NHS) mit ihren ambitionierten Lohnforderungen genießen.
Bis in den Sommer
„Wir haben ein Mandat, das bis Mai dieses Jahres läuft“, sagte Lynch. „Und wenn wir darüber hinausgehen müssen, werden wir das tun.“ Man wolle das nicht, aber die Gegenseite habe sich in die Weihnachtsferien verabschiedet, ohne ihr Angebot zu verbessern. Es hatte Lohnerhöhungen von 9 % über zwei Jahre vorgesehen – in Verbindung mit Veränderungen in der Arbeitsweise, gegen die sich die RMT hartnäckig stemmt. Die Regierung habe die Verhandlungen „torpediert“, behauptete Lynch, indem sie „Bedingungen hineingeschrieben hat, von denen sie weiß, dass wir sie niemals akzeptieren können“. Die Gewerkschaft hadert mit 14 Bahngesellschaften und dem staatlichen Netzbetreiber Network Rail.
Dabei ist sie zunehmend isoliert, denn die Gewerkschaften TSSA und Unite sind bereits auf ein vergleichbares Angebot eingestiegen. Hätte die Regierung die Bahngesellschaften während der Pandemie nicht mit Milliardenhilfen über Wasser gehalten, wären viele RMT-Mitglieder heute arbeitslos. Der staatliche Operator of Last Resort (OLR) übernahm die Kontrolle über Northeastern und Southeastern. Die „Betreibergesellschaft letzter Instanz“ wurde 2018 eingerichtet, um die Hauptstrecke entlang der Ostküste zu betreiben, nachdem Virgin Trains die Lizenz dafür verloren hatte. Seit der Vorstellung des Konzepts Great British Railways im Mai 2021 fürchtet man in der Branche allerdings Verstaatlichungen durch die Hintertür. Andererseits laufen durch Streiks und ausbleibende Fahrgäste erhebliche Verluste auf. Simon French, der Chefvolkswirt von Panmure Gordon, geht davon aus, dass deutlich weniger ins Büro gependelt wird. Im Vergleich zum vor der Pandemie erreichten Niveau habe sich der Berufsverkehr der Büroangestellten um 25 % bis 30 % reduziert – nicht nur in den städtischen Regionen Großbritanniens, sondern auch in anderen Teilen der Welt. Das betreffe auch Dienstleister wie das Gastgewerbe. „Die Streiks fügen nur einen weiteren Grund hinzu, aus dem Menschen vorübergehende Verhaltensmuster zu permanenten machen“, sagte French BBC Radio 4.
Auch bei der Royal Mail wird gestreikt. Die Briten bekamen dieses Jahr keine Weihnachtskarten. Auch wichtige Post blieb über die Feiertage liegen. Das öffentliche Gesundheitswesen NHS nähert sich – wie in jedem Winter seit der Jahrtausendwende – dem Zusammenbruch. Wöchentlich sterben bis zu 500 Menschen auf Grund von Verzögerungen bei der Notfallversorgung, wie Adrian Boyle, der Präsident des Royal College of Emergency Medicine, dem Sender Times Radio sagte. Allerdings wird die Lage in diesem Jahr durch die für den 11. und 23. Januar angekündigten Streiks von Rettungssanitätern und Arbeitsniederlegungen von Krankenschwestern am 18. und 19. Januar verschärft.