Strukturelle Mehrheit der „Tauben“ im EZB-Rat
Von Mark Schrörs, Frankfurt
Was sich in den vergangenen Tagen bei der Europäischen Zentralbank (EZB) abgespielt hat, gibt es wahrlich nicht alle Tage: Erst nimmt EZB-Präsidentin Christine Lagarde – in Form und Inhalt absolut ungewöhnlich – de facto die Entscheidung der drei nächsten Zinssitzungen bis September vorweg und schließt ein allzu aggressives Vorgehen gegen die rekordhohe Inflation aus – was zumindest bei einigen Notenbankern für Ärger sorgt. Und gleich am nächsten Tag gibt es direkt öffentlichen Widerspruch und indirekte Kritik an Lagarde – von Österreichs Notenbankchef Robert Holzmann.
Das öffentliche Ringen um den weiteren Kurs richtet den Fokus noch einmal stark auf die Mehrheitsverhältnisse im EZB-Rat – zumal angesichts der wegweisenden Entscheidungen, die in den nächsten Wochen und Monaten zu treffen sind.
Im EZB-Rat gibt es eigentlich seit jeher eine strukturelle Mehrheit der sogenannten „Tauben“, also jener Notenbanker, die im Zweifelsfall für eine eher lockere Geldpolitik plädieren, gegenüber den „Falken“. In den vergangenen Jahren hat diese Mehrheit eher noch zugenommen. Hinzu kommt, dass sehr einflussreiche Euro-Hüter eindeutig oder zumindest tendenziell zu diesem Lager gezählt werden. Das gilt etwa für EZB-Chefvolkswirt Philip Lane, aber auch für die Zentralbankchefs aus Frankreich und Italien, François Villeroy de Galhau und Ignazio Visco. EZB-Präsidentin Christine Lagarde bezeichnet sich selbst als „weise Eule“, aber ihre Positionen schienen zumindest lange Zeit meist eher näher an jenen der „Tauben“ als der „Falken“. Das mag auch an Lanes Einfluss liegen, der als ihr geldpolitischer Vordenker gilt.
Auf der Gegenseite hat sich – zumal nach dem vorzeitigen Abschied von Ex-Bundesbankpräsident Jens Weidmann Ende 2021 – Österreichs Notenbankchef Robert Holzmann als vehementester „Falke“ profiliert. Zu dem Lager zählen zudem auch Bundesbankpräsident Joachim Nagel und der niederländische Zentralbankchef Klaas Knot.
Wenngleich die Mitglieder des EZB-Rats und insbesondere auch die nationalen Zentralbankchefs in dem Führungsgremium die Interessen der gesamten Währungsunion im Blick haben und keine nationalen Interessen verfolgen sollen, stehen sich auch im EZB-Rat häufig die Vertreter aus der Euro-Peripherie und den Euro-Kernländern gegenüber. Das hat sicher auch mit unterschiedlichen wirtschafts- und geldpolitischen Philosophien und Grundsätzen zu tun. Aber auch die jeweilige Lage in den Ländern spielt nach verbreiteter Einschätzung oft eine zentrale Rolle.
Im vergangenen Jahr sorgte etwa eine Studie des Leibniz-Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) für Aufsehen, die zu dem Ergebnis kam, dass die damalige Konfliktlinie beim Streit im EZB-Rat über die Fortdauer der Anleihekäufe durch die Höhe der Staatsschulden im Heimatland der Ratsmitglieder erklärt werden konnte. In der aktuellen Diskussion über ein neues Notfallinstrument gegen als exzessiv angesehene Zinsunterschiede (Spreads) zwischen den Euro-Ländern, verläuft die Konfliktlinie auch stark zwischen Peripherie und Kern (siehe Text auf dieser Seite).
Die rekordhohe Inflation im Euroraum hat nun zwar auch die „Tauben“ auf die Linie einschwenken lassen, dass zumindest die billionenschweren Anleihekäufe und der Negativzins rasch beendet werden müssen. Das Tempo und das generelle Ausmaß der geldpolitischen Normalisierung ist aber umstritten. Da scheint für die nächsten Monate noch einiger Streit vorprogrammiert.