Transatlantisches Sturmtief
Schlechtes Wetter hat die Downing Street als Grund dafür angegeben, dass Joe Biden und Boris Johnson vor dem G7-Gipfel in Cornwall nicht wie geplant die Touristenattraktion Saint Michael’s Mount ansteuerten. Tatsächlich hatte sich über Nacht ein transatlantisches Sturmtief zusammengebraut. Johnson hatte ursprünglich gehofft, dass ihm Biden nicht in die Parade fahren würde, indem er den anhaltenden Brexit-Streit um Nordirland auf die Tagesordnung bringt. Schließlich wollte der britische Premierminister eine neue Atlantikcharta verkünden, die nach dem unrühmlichen Abgang von Donald Trump einen Neuanfang ermöglichen sollte.
Doch wollte es Biden, der nicht müde wird, seine irischen Wurzeln zu betonen, nicht beim Ausdruck von Besorgnis über das Gezänk zwischen London und Brüssel belassen. Schon vergangene Woche ließ er David Frost, dem britischen Verhandlungsführer, eine Demarche zustellen, in der er der Regierung in London vorwarf, die Spannungen in Ulster anzufachen. Johnson hatte er einst als „physischen und emotionalen Klon“ von Trump bezeichnet. Wie die „Times“ rechtzeitig ans Licht brachte, um die Stimmung vor dem Gipfel zu trüben, forderte Biden Großbritannien am 3. Juni zu einer Verhandlungslösung mit der EU auf, auch wenn dafür unpopuläre Kompromisse erforderlich seien. Etwas Zuckerbrot gab es auch: Wenn sich London dazu entschließe, den EU-Standards zu Lebensmittelsicherheit und Tiergesundheit zu folgen, würde das die Chancen auf ein Freihandelsabkommen mit den Vereinigten Staaten nicht beeinträchtigen.
In Großbritannien kommen solche Einmischungsversuche aus Washington nie gut an. Barack Obamas Drohung, die Briten müssten sich ganz hinten anstellen, wenn sie nach einem Votum für den Brexit ein Freihandelsabkommen haben wollten, war bekanntlich erfolglos. Die Nordirland-Gespräche, zu denen EU-Vize Maros Sefcovic in die britische Metropole gereist war, gingen am Mittwoch trotz der vorangegangenen Intervention Bidens ergebnislos zu Ende.
Johnson will schon gar nicht mehr von „Special Relationship“ sprechen, wenn es um das Verhältnis zu den USA geht, um nicht hilfsbedürftig zu wirken. Er will wohl auch keine unrealistischen Erwartungen wecken. Der Ausdruck geht auf eine Rede Winston Churchills aus dem Jahr 1946 zurück und erinnert an den gemeinsamen Sieg im Zweiten Weltkrieg. Die dadurch suggerierte Nähe gibt es schon lange nicht mehr. Washington wird es London auch unter Joe Biden nicht leicht machen.