Verspätete Weichenstellung in China
Verspätete Weichenstellung in China
Seit der alle fünf Jahre stattfindenden „Central Financial Work Conference“ und der jährlichen „Central Economic Work Conference“ wird in China gerungen: wie den enormen Herausforderungen begegnen? Konkret: wie umgehen mit der enormen Kluft zwischen Reich und Arm; dem Gefälle zwischen Stadt und Land; der – vor allem unter Jugendlichen – zu hohen Arbeitslosigkeit; einem schwachen Sozialsystem, das unzureichend erscheint angesichts einer sehr niedrigen Geburtenrate und der raschen Alterung der Bevölkerung; den ökologischen Schäden, die das schnelle Wachstum angerichtet hat; dem Umstieg des Wirtschaftens auf Innovation und Technologien der Zukunft; einem Finanzsystem, das kein tragfähiges Gleichgewicht findet zwischen den staatlichen Ebenen und der Finanzierung ihrer Aufgaben, wie die Krise der Wohnungsimmobilien zeigt.
Es mischen sich strukturelle und aktuelle Herausforderungen. Man wird sehen und analysieren müssen, welche Antworten dieses 3. Plenum gibt. Eines sollte nicht übersehen werden: auch in China wird nicht jede politische Ankündigung umgesetzt. Umso wichtiger werden die nächsten Monate; was geschieht wirklich, um beschlossene Ziele umzusetzen? Dafür ein Beispiel: von 31 Provinzen und regierungs-unmittelbaren Städten waren 2024 bisher nur Schanghai und (begrenzt) die umgebenden Provinzen Jiangsu und Zhejiang in der Lage, ihre Aufgaben über laufende Einnahmen zu decken. Auf lokaler Ebene ist die Lage noch schwieriger.
Die Vergabe von Landnutzungsrechten kommt an ein Ende und damit eine zentrale Einnahmequelle auf örtlicher Ebene. China kennt keine Kapitalertragssteuern, keine Grunderwerbssteuer, keine Grundsteuer, so gut wie keine Erbschafts- oder Schenkungssteuern – diese und andere Faktoren zusammengerechnet, erreicht das „fiscal revenue“ etwa 26% des Bruttoinlandsprodukts. Wie der frühere Finanzminister LOU Jiwei gerade vorgerechnet hat, zahlen nur knapp 5% der Bevölkerung überhaupt eine persönliche Einkommensteuer.
Dies und die gegenüber Europa und Deutschland deutlich geringere Höhe der Mehrwertsteuer soll seit 2013 geändert werden. So hatte es das damalige 3. Plenum beschlossen; geschehen ist praktisch nichts. Es lohnt also, die Implementierung von beschlossenen Zielen im Auge zu behalten. Denn die „Lieferung“, das Umsetzen politischer Ziele in die Wirklichkeit, ist entscheidend – für das Vertrauen internationaler Unternehmen ebenso wie in China selbst. Das verweist auf einen anderen zentralen Zusammenhang: Das gegenwärtige Plenum hat den Anspruch, die Reformen zu vertiefen und mehr zu erreichen in der Modernisierung Chinas.
Schon die Formulierung macht deutlich, welche Wirkmacht die 1978 begonnene Politik von Reform und Öffnung unter DENG Xiaoping bis heute hat. Nicht alleine, dass mehrere hundert Millionen Menschen aus der absoluten Armut befreit wurden, dass Zugang zu Lesen und Schreiben für alle ermöglicht wurden oder sich die Lebenserwartung enorm verbesserte – die wirtschaftlichen und sozialen Erfolge basierten ja auf einem neuen „Gesellschaftsvertrag“: wir, die kommunistische Führung bestimmen Politik und Staat und ihr gestaltet Wirtschaft und euer privates Leben (in den gezogenen, heutzutage immer engeren Grenzen).
Dass sich Vertrauen weder herbeiplanen noch herbeikommandieren lässt, zeigt die Entwicklung der Geburtenrate. In China beträgt sie wenig mehr als 1,1 und in Deutschland fast 1,6 (weltweit 2,3). Wie in einem Brennglas spiegelt das, wie strukturelle und aktuelle Herausforderungen in China zusammenwirken: die bisher feste Annahme wachsenden Wohlstands, die enormen Aufwendungen für Kinder, die erwartete Unterstützung der Älteren durch (gut ausgebildete und verdienende) Kinder oder Enkel – dies und mehr wird erschüttert durch Jugendarbeitslosigkeit, Immobilienkrise oder stagnierende Einkommen. Deshalb ist es offen, welche neuen Weichen gestellt werden – und ob sie geeignet sind, die spürbare Krise des Vertrauens zu mildern.
China repräsentiert, grob gesagt, etwa 30% der industriellen Kapazität der Welt, aber nur 16% der weltweiten Nachfrage. Kapazität und Auslastung, Überkapazitäten und Export, sinkende Nachfrage (zu Lasten beispielsweiser deutscher Produkte) – das aktuelle Umfeld ist für alle Nationen voller Risiken. Das gilt in Europa, den USA und auch China. Man kann davon ausgehen, dass China – wie wir auch – Resilienz, technologische und innovative Kraft ausbauen wird. Wie das aber zusammenpassen soll mit den Staatsunternehmen oder mit den Parteizellen in den Unternehmen, bleibt die Frage; Die Realität ist hier meist der härteste Lehrmeister.