LEITARTIKEL

Vom reinen Wasser

Gespür für Timing gehört nicht zu den Fähigkeiten, mit denen Mark Carney für sich werben sollte. Der Gouverneur der Bank of England hätte bei seinem Auftritt als Frühstücksredner vor der im Londoner Mansion House versammelten Finanzbranche ja nicht...

Vom reinen Wasser

Gespür für Timing gehört nicht zu den Fähigkeiten, mit denen Mark Carney für sich werben sollte. Der Gouverneur der Bank of England hätte bei seinem Auftritt als Frühstücksredner vor der im Londoner Mansion House versammelten Finanzbranche ja nicht ganz so deutlich sagen müssen, dass mit einer Zinserhöhung so schnell nicht zu rechnen ist. Das Pfund hatte sich gerade ein bisschen erholt, nachdem sich gleich drei externe Mitglieder des geldpolitischen Komitees auf der jüngsten Sitzung für einen ersten Schritt nach oben ausgesprochen hatten. Carney schickte es wieder in den Keller. Dabei hätte ein spekulationsbedingter Wechselkursanstieg Importe vorübergehend verbilligt und sich dadurch dämpfend auf die zuletzt unerwartet schnell gestiegene Teuerungsrate ausgewirkt.Kurz nach dem EU-Referendum hatte die Bank of England, die offenbar an die eigenen Untergangsszenarien für den Fall eines Votums für den Brexit glaubte, nicht nur den Leitzins um 25 Basispunkte auf ein neues historisches Tief gesenkt, sondern auch ein neues Programm zur Förderung der Kreditvergabe aufgelegt. Zudem kündigte sie an, erneut Staatsanleihen zu kaufen und erstmals auch erstklassige Corporate Bonds zu erwerben. Belastbare Daten, die dazu Anlass gegeben hätten, lagen nicht vor. Bankvolkswirte applaudierten. Die Maßnahmen waren das geldpolitische Äquivalent zum sprichwörtlichen Öl, das ins Feuer gegossen wird. Obwohl in den Folgemonaten immer mehr Konjunkturdaten die Erwartungen übertrafen und die Wirtschaft weiter an Schwung gewann, nahm die Notenbank die Ausweitung der seit der Finanzkrise aufrechterhaltenen geldpolitischen Notstandsmaßnahmen nicht zurück. Sie trug dadurch ihren Teil zur Abwertung des Pfunds bei, welche die Einfuhren stark verteuerte.Den Ökonomen der Notenbank mag es leichtfallen, durch diese importierte Inflation hindurchzusehen – zu Deutsch: sie zu ignorieren. In ihren wirklichkeitsfremden Modellen spielt sie keine Rolle. Die 11 Millionen Familien, die in Großbritannien auf staatliche Transferleistungen angewiesen sind, bekommen den zunehmenden Preisauftrieb dagegen schmerzlich zu spüren. Denn der ehemalige Schatzkanzler George Osborne hat dafür gesorgt, dass ihre Bezüge nicht mehr automatisch an die Teuerung angepasst werden. Auch die Lohnentwicklung hält mit dem Preisauftrieb nicht mehr Schritt. Die Realeinkommen sinken bereits. Der private Konsum dürfte trotz Vollbeschäftigung schon bald nicht mehr als Wachstumstreiber zur Verfügung stehen, zumal viele Haushalte in Kürze ihr Limit bei der Verschuldung erreicht haben dürften.Osbornes Nachfolger Philip Hammond will an dessen Sparpolitik festhalten. Schlimmer noch, er wird am Ende die Maßnahmen durchsetzen, die der auf seinen guten Ruf bedachte Osborne auf die lange Bank geschoben hatte. Es darf also nicht darauf gehofft werden, dass die Konjunktur durch Investitionen der öffentlichen Hand nennenswert angekurbelt wird. Die Fiskalpolitik wird in Großbritannien nicht an die Stelle der Geldpolitik treten. Man hat zwar noch von keinem Land gehört, das durch exzessives Sparen gewachsen wäre. Hammond hält aber unverdrossen daran fest, dass bessere öffentliche Dienstleistungen nur durch mehr Wachstum finanziert werden können. Höhere Steuern oder eine höhere Neuverschuldung schließt er aus.Das Wasser, das zu rein ist, hat keine Fische, lautet eine alte Zen-Weisheit. In Großbritannien traf die reine Lehre des Monetarismus auf die reine Lehre des Thatcherismus. Dem Land steht ein heißer Sommer bevor. Der Brexit fordert seinen Preis. Die gesellschaftlichen Spannungen haben seit dem Votum für den Brexit stark zugenommen. Eine Reihe von Terroranschlägen erschütterte das Land und vertiefte die Gräben zwischen den Bevölkerungsgruppen. Der Großbrand in einem Londoner Sozialwohnungsblock hat vielen gezeigt, wie schnell ihre Welt in Flammen aufgehen kann. Am Ende gibt es nicht nur keine Fische mehr, auch das Wasser ist verdampft.Die Bank of England ist nahezu am Ende ihrer Möglichkeiten angelangt. Die Geldpolitiker müssen nur noch zugeben, dass sie fast ihr ganzes Pulver schon beim ersten Knall verschossen haben. Carney wurde bislang Genialität unterstellt, denn er vermochte – wenn auch nur für kurze Zeit – per Forward Guidance die Zinsen steigen zu lassen, ohne den Leitzins zu erhöhen. Mittlerweile drängt sich der Eindruck auf, dass es ganz anders gewesen sein könnte. Vielleicht war es einfach nur schlechtes Timing.——–Von Andreas HippinGroßbritannien steht ein heißer Sommer bevor. Der Preisauftrieb macht sich deutlich bemerkbar. Die Bank of England hat ihren Teil dazu beigetragen.——-