Von Lügenzahlen und einer Entwöhnungstherapie

Von Stephan Lorz, Frankfurt Börsen-Zeitung, 7.3.2013 In der kommenden Woche jährt sich die Ankündigung der unter dem früheren Bundeskanzler Gerhard Schröder verabschiedeten Reformen der "Agenda 2010" zum zehnten Mal. Zwar wird nach wie vor darüber...

Von Lügenzahlen und einer Entwöhnungstherapie

Von Stephan Lorz, Frankfurt In der kommenden Woche jährt sich die Ankündigung der unter dem früheren Bundeskanzler Gerhard Schröder verabschiedeten Reformen der “Agenda 2010” zum zehnten Mal. Zwar wird nach wie vor darüber gestritten, wie “sozial gerecht” es dabei zuging, wer die Leidtragenden der Veränderungen im Sozialsystem und Arbeitsrecht waren und sind, doch unstrittig ist die Tatsache, dass dadurch die Grundlage für die verbesserte Performance und enorme Krisenresistenz der deutschen Wirtschaft gelegt worden ist: Der Arbeitsmarkt wurde flexibilisiert, Sozial- und Arbeitskosten gesenkt und neue – manche sagen: prekäre – Beschäftigungsformen eingeführt. Deutschland wurde vom “kranken Mann Europas” zur Konjunkturlokomotive und zum Reformvorbild.Nicht fern liegen daher Überlegungen, die Reformblaupause auch auf die Euro-Krisenländer zu übertragen. Eine Reihe von Strukturveränderungen, welche die betreffenden Staaten unter dem Diktat der Finanzhilfen bereits versprochen hatten, stammen ja aus dem Agenda-Repertoire und gehen in diese Richtung.Sahra Wagenknecht, die wirtschaftspolitische Sprecherin der Partei “Die Linke”, hält indes gar nichts von einem Export der deutschen Reformen. Die vom Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW), Michael Hüther, bezifferten Erfolge der Agenda 2010 verunglimpft sie in einer Diskussionssendung des TV-Senders Phoenix (“Forum Wirtschaft”, Sonntag, 10. März, 13h) als “Lügenzahlen”. Stattdessen fordert sie mehr Geld zur Ankurbelung des Wachstums und zur Vermeidung sozialer Härten – gespeist aus den Erträgen einer europaweiten Steuerharmonisierung, einem Mindeststeuersatz für Unternehmen, einer Vermögensteuer sowie aus einem Schuldenschnitt. Letzterer dürfe aber nicht “den einfachen Sparer” treffen.Hüther sieht Reformen dagegen als den einzigen Weg aus der Krise. Erste Erfolge seien bereits sichtbar, betonte er und verwies auf die Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit. Die bisherigen Reformen seien wirkungsvoller und tiefgreifender als vielfach eingeschätzt. Allerdings würden Reformen einfach “ihre Zeit” benötigen. Hüther: “Es ist ein mühsamer Prozess.”Auch der Chefvolkswirt der Commerzbank, Jörg Krämer, sieht erste Erfolgsindikatoren der Reformen. Allerdings stünde “ein richtiger Reformdurchbruch noch aus”. Die Krisenstaaten müssten ihre Reformarbeit deshalb weiter forcieren. Kurt Lauk, der Präsident des CDU-Wirtschaftsrats, fordert zudem eine Ergänzung der Konsolidierungs- und Reformpolitik durch eine Wachstumsinitiative. Lauk: “Wir können nicht nur sparen, sondern müssen auch für Wachstum in den Krisenländern sorgen.” Denn die Sparpolitik führe zu politischen Unruhen und neuen Unsicherheiten, welche womöglich dann die ganze Euro-Rettung gefährden.Wagenknecht warnt indes davor, den gegenwärtigen Reformkurs überhaupt beizubehalten. Er würde ins Verderben führen. Die realwirtschaftliche Lage werde immer schlechter, die Menschen würden ärmer, verlören ihre Jobs, was den Staat in neue Schulden treibe, was wiederum die Zinsen ansteigen lasse und die Krise neu anheize. Statt den Bürgern sollten vielmehr die Bankgläubiger und Aktionäre zur Finanzierung herangezogen werden. Wagenknecht: “Keine Reformen mehr, die immer nur die kleinen Leute treffen!” Mit den Banken treffe es dann auch “die Richtigen”. Schließlich hätten sie die Krise verursacht und den Krisenstaaten durch die Rettung der Bankhäuser die jetzt beklagten Schulden erst aufgetürmt. Spanien etwa sei ja vor der Finanzkrise noch rundum gesund gewesen. Und es seien jetzt auch die Banken, die eine Gesundung verhinderten. Wagenknecht verweist auf die Kreditklemme in Südeuropa. Die Banken würden zwar von der EZB “Geld für lau” erhalten, “spekulieren aber damit, statt es als Kredite weiterzugeben”.Krämer verteidigte die Notwendigkeit von Strukturreformen. Denn wenn die Länder wieder attraktiv für Investitionen werden möchten, müssten sie zunächst den Boden dafür bereiten. Das betreffe die Wettbewerbsfähigkeit des Standorts und die politisch-rechtlichen Rahmenbedingungen. Dies gelte es zu verbessern.Die Euro-Krise wird nach seiner Meinung aber noch länger anhalten und womöglich neue Gefahren heraufbeschwören gerade durch die von der Europäischen Zentralbank (EZB) betriebene Rettungspolitik. Statt immer neue Liquidität in den Markt zu geben, was neue Krisen hervorbringe und die Märkte an das niedrige Zinsniveau gewöhnen würde, sei eher die Einleitung einer Entwöhnungstherapie angebracht. Denn mit dem Zins-Schutzschirm der EZB würden ja die Ursachen der Euro-Krise nicht angegangen, sondern die Krisenreaktionen allenfalls “übertüncht”. Zudem würden damit bereits die Grundlagen für die nächste Krise gelegt. Das habe mit der Politik des früheren US-Notenbankchefs Alan Greenspan begonnen und setze sich nun fort. Die Nullzinspolitik sei, so Krämer, für sich genommen zum Risiko geworden. Deshalb müsse der Ausstieg eher früher als später erfolgen.Wagenknecht hält auch diese Ansicht für grundfalsch. Die EZB, so die Linken-Politikerin, solle ihren Kurs fortsetzen – aber den Banken müsse man die Spekulationsinstrumente aus der Hand schlagen, damit sie sich wieder auf ihre Kernaufgabe – die Versorgung der Wirtschaft mit Kredit – widmeten.—–Die Agenda 2010 als Blaupause für die Euro-Krisenländer? Eine Debatte unter Politikern und Ökonomen beim TV-Sender Phoenix.—–