Von Ost nach West, von Süd nach Nord
Von Andreas Heitker, BukarestRumänien hat ein Problem. Jedes Jahr verlassen Schätzungen zufolge etwa 200 000 bis 300 000 Arbeitskräfte das Land. Gut ausgebildete Wissenschaftler, IT-Experten, Unternehmer sind darunter, aber auch viele einfache Arbeiter und Angestellte, zum Beispiel aus der Gastronomie. Mittlerweile arbeiten mehr als drei Millionen Rumänen in einem anderen EU-Land. 2017 waren es 19,7 % der Bevölkerung im arbeitsfähigen Alter zwischen 20 und 64 Jahren – also rund jeder Fünfte. “Wir haben das Geld. Wir haben die Projekte. Aber uns fehlen einfach die Arbeitskräfte im Land”, klagte am Wochenende Finanzminister Eugen Teodorovici in Bukarest.Und Rumänien ist wahrlich nicht allein mit diesem Problem. In Bulgarien (Abwanderungsquote 12,4 %), Kroatien (13,9 %), Lettland (12,6 %) und Litauen (14,8 %) oder auch Portugal (13,8 %) sieht es ebenfalls prekär aus (siehe Grafik). Teodorovici hat das Thema der innereuropäischen Arbeitsmigration jetzt im Finanzministerrat (Ecofin) prominent auf die Agenda gesetzt – schließlich hat das Problem in den betroffenen Ländern auch signifikante Auswirkungen auf die öffentlichen Finanzen. Erosion der SteuerbasisIn einer neuen Studie, die die Brüsseler Denkfabrik Centre for European Policy Studies (Ceps) für den Ecofin erstellt hat, ist das Fazit klar: Es gehe hier nicht nur um den sogenannten Brain Drain, also der verstärkten Abwanderung von Hochqualifizierten, sondern auch um eine mögliche Erosion der Steuerbemessungsgrundlage. Zwar gebe es auch einen geringeren Ausgabenbedarf der öffentlichen Hand, wenn viele Menschen das Land verließen, so das Ceps. Und zusätzliche Mehrwertsteuereinnahmen durch Ausgaben, die durch Rücküberweisungen von Geld der Ausgewanderten ins Heimatland finanziert würden, milderten das Problem auch ein wenig. Aber gerade in Ländern mit einer hohen Staatsverschuldung trage die hohe Mobilität der Arbeitskräfte auch zur weiteren Alterung der Bevölkerung bei und werde damit auch zum “Hauptproblem für die Tragfähigkeit der Schulden”.Insgesamt hat die Mobilität der Arbeitnehmer in der Europäischen Union in den letzten Jahren erheblich zugenommen. Inzwischen leben knapp 4 % der EU-Bürger im erwerbsfähigen Alter in einem anderen Mitgliedstaat. Dieser Anteil ist in den letzten gut zehn Jahren um etwa 50 % gestiegen. 2007 lag der Anteil noch bei 2,5 %.Den Grund für diese Entwicklung sehen Wissenschaftler vor allem in zwei Ereignissen: Vor allem die große Osterweiterung der EU im Jahr 2004, der dann 2007 auch noch der Beitritt von Bulgarien und Rumänien folgte, hatte große Wanderungsbewegungen von Ost nach West ausgelöst. Im Zuge der nur kurz darauf folgenden Wirtschafts-, Finanz- und Euro-Krise kamen vor allem innerhalb der Währungsunion weitere – im Vergleich allerdings kleinere – Wanderungsbewegungen von Süd nach Nord hinzu.Rumänien, das am stärksten betroffene Land in der Union, nutzt zurzeit seine EU-Ratspräsidentschaft, um das Thema sehr weit oben auf der politischen Agenda zu platzieren. Finanzminister Teodorovici kündigte am Wochenende an, mit anderen “Entsendeländern” ein “sehr aggressives Paket” erarbeiten zu wollen, das die Arbeitskräfte zurück nach Hause holen werde. Wie das allerdings genau geschehen soll, ist unklar. Das Thema ist heikel, berührt es doch auf der einen Seite die Arbeitnehmerfreizügigkeit in der EU und damit einen der Kernpfeiler des Binnenmarktes und zum anderen die emotional hoch aufgeladene Migrationsdebatte. Verbindungen zum BrexitDer Vizepräsident der EU-Kommission, Valdis Dombrovskis, verwies in Bukarest darauf, dass die Situation auch in den Einwanderländern – die von Wanderbewegungen ja eher profitieren – alles andere als einfach sei. Arbeitsmigration werde hier oft auch mit unfairem Wettbewerb, Druck auf die Löhne und zusätzliche Kosten für den Sozialstaat gleich gesetzt, sagte Dombrovskis. Dies basiere zwar nicht immer auf Fakten. “Aber wir müssen die Sorgen ernst nehmen.”Welche Auswirkungen die Arbeitsmigration haben kann, zeigt sich eindrucksvoll in Großbritannien, wo das Thema auch rund um das Brexit-Referendum vor drei Jahren eine entscheidende Rolle spielte. Im Gegensatz zu den anderen großen EU-Ländern hatte Großbritannien nämlich nach der Osterweiterung seine Arbeitsmärkte sofort geöffnet und auch gezielt Arbeitskräfte aus Osteuropa angeworben. Die Folge dieser Politik waren überdurchschnittlich viele Zuzüge aus der Region – und es zogen nicht nur verstärkt polnische Handwerker ins Land, sondern vor allem auch hoch ausgebildete EU-Bürger.Wie das Ceps feststellte, kamen innerhalb von zehn Jahren netto rund 800 000 Hochschulabsolventen – viermal mehr als Arbeitskräfte vom unteren Ende der Qualifikationsskala. “Das Vereinigte Königreich scheint der Gewinner des Kampfes um Talente gewesen zu sein”, stellt die Brüsseler Denkfabrik fest. Paradoxerweise hat diese recht erfolgreiche Politik dann auch maßgeblich zum Brexit beigetragen. Reichen Strukturreformen?Wie es jetzt konkret weitergehen wird, ist unklar. Sicher ist, dass niemand aktuell an der Arbeitnehmerfreizügigkeit rütteln will. Den Betroffenen haben die EU-Partner bislang aber lediglich den Rat zu bieten, sie mögen doch ihr Land bitte schön mit Strukturreformen wieder auf Kurs bringen und damit dann auch die Arbeitskräfte im Land halten. Länder wie Rumänien sind damit allerdings alles andere als zufrieden und hoffen, dass das Thema in der nächsten EU-Kommission und im nächsten Europaparlament eine höhere Priorität erhält.Deutschland zeigt in diesem Zusammenhang bislang eher ein gepflegtes Desinteresse – was sicherlich auch damit zusammenhängt, dass lediglich 1,0 % der deutschen Arbeiter und Arbeitnehmer sich im europäischen Ausland eine Beschäftigung gesucht hat. Diese Quote ist so gering wie nirgendwo sonst in der EU. Als am Wochenende in Bukarest die Debatte über das Thema Arbeitsmigration im Finanzministerrat startete, hatte der deutsche Ressortchef Olaf Scholz den informellen Ecofin schon längst wieder in Richtung Berlin verlassen.