Sergej Gurijew

„Vorerst hat Putin genug Geld“

Einst hat er Russlands Staatspräsident Dmitri Medwedjew beraten, heute lehrt er in Paris: Sergej Gurijew erklärt im Interview der Börsen-Zeitung wo die Sanktionen schlecht konzipiert waren, welche Zahlen aus Russland falsch interpretiert werden – und was man zur Moskauer Wirtschaftselite wissen muss.

„Vorerst hat Putin genug Geld“

Eduard Steiner.
Herr Gurijew,

2013 haben Sie für den jetzt inhaftierten Oppositionspolitiker Alexej Nawalny das Wirtschaftsprogramm geschrieben. Sollte er jetzt zur Wahl stehen, wozu würden Sie ihm wirtschaftlich raten?

Krieg stoppen, Friedensverhandlungen starten, Truppen aus der Ukraine abziehen, Reparationen zahlen so­wie die Kriegsverbrecher einem internationalen Gericht übergeben. Und dann über die Aufhebung der Sanktionen verhandeln.

Sanktionen wurden in der Geschichte immer wieder leicht eingeführt, aber schwer aufgehoben. Jetzt kann man sich das noch schwerer vorstellen.

Sie haben recht, es wäre ein langer Prozess. Und Russland müsste in Sachen Ukraine zuerst umsetzen, was ich oben erwähnt habe. Mir scheint, dass Putin das nicht tun wird. Klar aber ist: Ohne Aufhebung der Sanktionen wird Russland kein Wirtschaftswachstum mehr schaffen.

Noch nie gab es so viele Sanktionen gegen ein Land. Dennoch ist Russlands Wirtschaft 2022 nicht – wie prognostiziert – um bis zu 10 % gefallen, sondern wohl nur um etwa 3 %. Hat Sie diese Resilienz auch verwundert?

Ja und nein. Faktum ist, dass der Wirtschaftsrückgang 2023 weitergeht. Die Resilienz hat damit zu tun, dass das Ölembargo erst im Dezember eingeführt wurde und das Embargo auf Ölprodukte erst diesen Februar folgen wird. Das Zweite ist, dass wir die Wirtschaft an den Zahlen des Bruttoinlandsproduktes (BIP) messen, Russland dieses in der Kriegssituation aber durch eine höhere Rüstungsproduktion fördert. In Wirklichkeit sinkt die Lebensqualität – das Einzelhandelsvolumen ging um 10 % zurück. Man sollte nicht glauben, dass es der Wirtschaft gut geht und die Russen gut leben. Ohne Krieg sollte das BIP 2022 um 3 % wachsen. Die Diskrepanz zwischen dem, was hätte sein können, und dem, was ist, ist riesig.

Putins ehemaliger Wirtschaftsberater Andrej Illarionow hat im Interview mit der Börsen-Zeitung kürzlich auch gesagt, dass wir auf die falschen Kennzahlen schauen. Er nennt als wichtigsten Faktor den rasanten Schwund der Gold- und Währungsreserven. Stimmen Sie zu?

Ja. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass Russland viele Wirtschaftsdaten nicht mehr publiziert. Wir wissen, dass es ein Budgetdefizit gibt, aber wir wissen nicht, wie genau die Ausgaben verteilt sind, wie viel mehr in die Verteidigung fließt und wie viel weniger in Bildung und Gesundheit. Was den Schwund der Währungsreserven betrifft, ist die Sache insofern brisant, als Russland kein Geld aufnehmen und aufgrund der hohen Inflation auch keines drucken kann.

Hat Putin noch genug Geld für den Krieg?

Vorerst hat Putin genug Geld für den Krieg. Aber wir wissen nicht, wie lange, weil wir nicht wissen, wie viel Geld in den Krieg fließt und wie sich das neue Ölembargo auswirkt. Es gab ein solches Embargo und einen solchen Preisdeckel bislang nicht, daher können wir auch nicht sagen, wie sehr die russische Ölförderung und die Einnahmen aus dem Ölverkauf zurückgehen werden.

Ich nehme an, dass die EU und die USA sich in Sanktionsfragen mit Ihnen beraten.

Ich bin mit vielen Wirtschaftsleuten im Gespräch, formeller Berater bin ich nicht.

Sanktionen wirken selten schnell, wenn überhaupt. Auch die jetzigen. Vielleicht aber waren sie auch falsch konzipiert. Wie würden Sie rückblickend vorgehen, um Russlands Wirtschaft schneller zu treffen?

Ich rief von Anfang an dazu auf, unverzüglich ein Ölembargo einzuführen. Die europäischen Politiker sprachen dagegen davon, dass das zu teuer für die europäische Wirtschaft wäre. Dabei wäre das nicht so sehr der Fall gewesen, wie auch diverse deutsche Ökonomen berechneten. Bei einem unverzüglichen Ölembargo hätte der Rubel nicht aufgewertet, und Putin hätte weitaus weniger Geld für den Krieg gehabt.

Selbst wenn das Ölembargo einen starken Effekt haben wird: Ist das Verbot von Technologieexporten nach Russland nicht folgenschwerer?

Beides ist wichtig. Das schnelle Ölembargo könnte den Krieg schnell stoppen, dann aber aufgehoben werden. Der Mangel an Hightech-Produkten und der Braindrain aus Russland aber haben langfristig schwere Folgen. Wir sehen schon jetzt, dass Russland Hochtechnologie zu fehlen beginnt und es gezwungen ist, Rüstung im Iran oder Nordkorea zu kaufen.

Für 2023 sind die Prognosen ex­trem unterschiedlich: Das Wirtschaftsministerium prognostiziert einen BIP-Rückgang um weniger als 1 %, während die Alfa-Bank minus 6,5 % voraussagt. Was sagen Sie?

Ehrlich gesagt weiß es niemand. Wir zweifeln immer mehr an der Statistik. Gewöhnlich wird der Internationale Währungsfonds als sehr zuverlässig angesehen – er prognostiziert einen BIP-Rückgang von 2 %. Schauen wir einmal! Die von Ihnen angeführte Alfa-Bank ist insofern sehr interessant, als ihre Analysten auf wichtige Daten aus dem Mobilfunksektor und dem Einzelhandelssektor zurückgreifen können, weil die Alfa-Gruppe große Konzerne in beiden Sektoren hat.

Kommen wir kurz zu den russischen Oligarchen, die Sie ja alle gut kennen. Ist es nicht naiv, sie im Westen zu verfolgen und ihr Vermögen einzufrieren? Denn einerseits siedeln sie einfach nach Dubai oder anderswo hin, und andererseits haben sie bekanntlich längst keinen Einfluss mehr auf Putin.

Sie haben recht, dass die Milliardäre bis auf ganz wenige Ausnahmen umsiedeln und sich nicht gegen Putin äußern. Zum Teil fürchten sie sich, weil sie entweder noch Geschäfte in Russland laufen oder dort Verwandte haben. Teils haben sie auch Angst, ermordet zu werden, was man verstehen kann. Manche sind gegen den Krieg, aber nicht gegen Putin. Die Oligarchen haben Angst.

Also hat die Jagd auf sie im Westen auch keinen Sinn, oder?

Ja. Sie müssen sich aber einen wichtigen Grund für Sanktionen gegen sie vor Augen halten. Stellen Sie sich vor, Sie haben als Oligarch einige Milliarden Dollar im Westen liegen. Und Sie haben Angst, gegen Putin aufzutreten, weil einige Ihrer Leute in Geiselhaft sind. Aufgrund dieser Geiseln aber könnte Putin Sie bitten, ihm zu helfen. Und dann werden Ihre Milliarden zu einem Instrument für ihn. Deshalb hat der Westen Vermögen eingefroren. Es geht also um einen Schutz der westlichen Demokratie. Enthüllungen zeigen, dass Putins Agenten nach wie vor im Westen aktiv sind und etwa Demonstrationen für Putin veranstalten. Putin wird weiter versuchen, Wahlen zu beeinflussen und den Westen zu spalten. Und potenziell kann er Oligarchengelder dafür verwenden.

Sie sind also dafür, dass der Westen so gegen Oligarchen vorgeht?

Ich würde es so sagen: Der Westen hatte keine andere Wahl. Im Grunde genommen sagt er: Wenn Ihr öffentlich gegen Putin auftretet, werden wir keine Sanktionen gegen Euch verhängen. Der Bankier Oleg Tinkow etwa wurde von Großbritannien mit Sanktionen belegt, trat dann aber gegen Putin auf und wurde daher von anderen Ländern nicht mehr mit Sanktionen belegt. In einem echten Krieg ist kein Platz für eine graue Farbe. Entweder Sie sind dafür oder dagegen.

Reden wir noch kurz über das wirtschaftsliberale Lager im russischen Establishment, etwa die Chefs der Zentralbank, einschlägiger Ministerien oder der größten Bank Sberbank. Sie kennen alle persönlich. Einige von ihnen haben Putin kurz vor Kriegsbeginn auch gewarnt, die Situation zu eskalieren, weil das die Wirtschaft in den Abgrund stürzen würde. Sind Putin solche Warnungen vollkommen egal?

Putin versteht, was sie sagen. Aber er sagt: Ich treffe die politischen Entscheidungen, eure Aufgabe aber ist es, die Folgen für die Wirtschaft zu minimieren. Und man muss sagen, sie haben Putin kurzfristig auch geholfen, die Situation zu stabilisieren. Und jetzt helfen sie ihm, den Krieg zu finanzieren. Natürlich können sie sich dahingehend rechtfertigen, dass die Situation für die Menschen in Russland ansonsten noch schlechter wäre. Aber man muss verstehen: Jede zusätzlich eingesparte Milliarde an Dollar fließt nicht in eine Erhöhung der Renten, sondern in den Ankauf iranischer Drohnen, um Kiew zu bombardieren.

Eigentlich ein Dilemma.

Nun, jede gesparte oder gerettete Milliarde Dollar werden die russischen Steuerzahler in Zukunft als Reparationen zahlen müssen. Die professionelle Arbeit des Wirtschaftslagers im Establishment hilft zwar, jetzt eine Finanzkrise zu vermeiden, versetzt aber langfristig der Wirtschaft einen schweren Schlag. Vielleicht sind einige von Putins Wirtschaftsleuten in der Situation von Geiseln, vielleicht bedroht Putin diese Leute mit dem Tod – das ist eine andere Frage. Aber sie helfen Putin, den Krieg zu finanzieren.

Aber ehrlich: Viele dieser Leute aus dem Wirtschaftslager sind prowestlich gesinnt, haben all die Jahre für die Entwicklung Russlands gearbeitet. Wie muss man sich jetzt ihr Psychogramm vorstellen?

Ich nehme an, dass ihnen das alles vollkommen gegen den Strich geht. Sie sehen, wie alles, was sie über Jahrzehnte aufgebaut haben, auf immer zerstört wird. Entweder fürchten sie Putin oder sie sind ihm verpflichtet. Aber sie arbeiten weiter für ihn und den Krieg. Dabei lesen sie westliche Zeitungen und werden erahnen, wie ihre Freunde im Westen über sie reden.

Was bleibt ihnen also übrig? Auswandern?

Ja.

Das Interview führte

BZ+
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