Weise gehen mit Berlin ins Gericht

Sachverständigenrat verlangt auch in Deutschland Reformen - Wirtschaftspolitik in Europa neu ausrichten

Weise gehen mit Berlin ins Gericht

Die fünf Wirtschaftsweisen haben die neue Bundesregierung aufgefordert, sich in Europa für eine bessere Wirtschafts- und Finanzmarktpolitik einzusetzen. Auch zu Hause müssten die Koalitionäre reformieren und ihre Vorbildfunktion erfüllen.wf Berlin – Die neue Bundesregierung soll in Europa intensiv für nationale Konsolidierungs- und Reformanstrengungen werben, Deutschland bei diesem Prozess aber nicht ausnehmen. Dazu rät der Sachverständigenrat für Wirtschaft in seinem neuen Jahresgutachten. “Die konjunkturelle Lage ist gut, aber wir sind dennoch besorgt”, sagte Ratsvorsitzender Christoph Schmidt vor der Presse in Berlin. “Viele scheinen den Blick darauf verloren zu haben, dass die gute Situation nicht vom Himmel fällt”, mahnte er mit Blick auf die laufenden Verhandlungen für eine große Koalition.Für dieses und nächstes Jahr rechnen die fünf Wirtschaftsweisen mit einem Plus des Bruttoinlandsprodukts (BIP) von 0,4 % und 1,6 %. Auch andere Kennzahlen wie Arbeitslosenquote und Finanzierungssaldo des Staates entwickeln sich erfreulich (siehe Tabelle). Die Sachverständigen warnen jedoch davor, die Agenda 2010 zu verwässern. Das Gleiche gelte für wachstums- und beschäftigungsfeindliche Maßnahmen wie Mindestlohn und Steuererhöhungen. Die in den Verhandlungen zu einer großen Koalition diskutierten Pläne einer Mütterrente, der Aufstockung niedriger Renten oder großzügiger Ausnahmen von der Rente mit 67 gingen zulasten künftiger Generationen. Stabile Euro-ArchitekturAber nicht nur national, auch in Europa sehen die Sachverständigen Deutschland mit Reformen in der Pflicht. “Die Bundesregierung sollte dem Eindruck entgegenwirken, schmerzhafte Anpassungsprozesse in anderen Ländern zu erwarten oder sogar zu fordern, gleichzeitig aber vor unpopulären Maßnahmen im Inland zurückzuschrecken”, schreiben sie. Zugleich ergeht die Aufforderung an die Regierung, ihre Bemühungen um die Errichtung einer stabilen Architektur des Euroraums fortzusetzen. Die Forderung des Rats aus dem Jahr 2011 nach einem Euro-Schuldentilgungsfonds kassierten die Sachverständigen. Dieser Fonds hätte unter strikten Auflagen schwache Euro-Länder temporär gestützt, aber auch zu gemeinsamer Haftung in Europa geführt.Dahinter stand die Idee, Geld- und Fiskalpolitik nicht zu vermischen, erläuterte Schmidt. Da die Europäische Zentralbank (EZB) dennoch die Rolle der Krisenmanagerin übernommen habe, sei dies obsolet. Die Euro-Krise habe sich seit der Ankündigung der Outright Monetary Transactions (OMT) durch die EZB merklich beruhigt, konstatierten die Forscher. Nach wie vor stabilisiere die EZB die rezessionsgeplagten Mitgliedstaaten des Euroraums und das europäische Finanzsystem. Die nationalen Regierungen blieben aber dringend aufgefordert, die EZB aus dieser Position zu befreien.Wichtiger Teil einer verbesserten Architektur des Euroraums ist für die Forscher die Neuaufstellung der Finanzmarktordnung mit der europäischen Aufsicht über den integrierten Bankensektor. Die deutsche Politik müsse für die Bankenunion die Änderungen der europäischen Verträge vorbereiten. Ziel seien eine klarere Governance-Struktur der europäischen Aufsicht und klare Entscheidungsstrukturen der europäischen Restrukturierungsbehörden. Die Bundesregierung solle die Grundlagen für einen strengen Asset Quality Review schaffen. Altlasten müssten bereinigt und von den Ländern getragen werden. Direkte Bankenhilfen aus dem europäischen Rettungsfonds ESM lehnen die Sachverständigen ab. Für grenzüberschreitend tätige Institute seien Vereinbarungen nötig, wie mögliche Sanierungskosten geteilt werden. EU-Aufsicht über SparkassenVerbundstrukturen – Sparkassen und Genossenschaftsbanken – gehören aus Sicht der Wirtschaftsweisen auch unter die zentrale Aufsicht. Eine Zweiteilung sei gerade für den deutschen Bankensektor “nicht sachgerecht”, schreiben sie. Letztlich sollte die Verantwortung für die Aufsicht über alle Banken auf EU-Ebene liegen. Zudem weisen sie auf offene Fragen bei der Behandlung der Sicherungssysteme der Verbünde bei der europäischen Bankenrestrukturierung und -abwicklung hin.