Zinsausblick sorgt für Zwist
rec Frankfurt
Die konkrete Umsetzung der überarbeiteten geldpolitischen Strategie sorgt für neuen Ärger im Rat der Europäischen Zentralbank (EZB). Den Beschluss über den neuformulierten Ausblick für die Leitzinsen im Euroraum, der auf eine noch deutlich länger expansive Geldpolitik hinausläuft, fassten die Währungshüter nicht im Konsens. Das räumte EZB-Chefin Christine Lagarde im Anschluss an die letzte Ratssitzung vor der Sommerpause ein: „Wir hatten keine Einstimmigkeit, aber wir hatten eine überwältigende Mehrheit zur Kalibrierung der Forward Guidance.“
Mit Forward Guidance ist der Ausblick für die Geldpolitik der nächsten Jahre gemeint. Konkret vereinbarte der EZB-Rat, die Leitzinsen auf ihrem gegenwärtigen Niveau „oder niedriger“ zu belassen, bis die Teuerungsrate „dauerhaft und für den Rest des Projektionszeitraums“ das neue Inflationsziel von glatt 2% erreicht hat. Das ist den aktuellen Projektionen der EZB zufolge in absehbarer Zeit nicht zu erwarten. Die Volkswirte der Notenbanken rechnen bislang damit, dass die Verbraucherpreisinflation nach einem zwischenzeitlichen Aufflackern bis 2023 auf 1,4% zurückgeht. Die Leitzinsen im Euroraum dürften daher auf lange Sicht auf historischen Tiefständen bleiben: –0,5% beim – wichtigeren – Einlagesatz für Geschäftsbanken, 0,0% beim Hauptrefinanzierungssatz.
Frische Projektionen wird es zur Sitzung im September geben. Frühestens dann ist mit Entscheidungen über die Zukunft der Anleihekäufe zu rechnen. Das betrifft insbesondere das im Zuge der Coronakrise aufgelegte Notfallkaufprogramm PEPP. Das mit 1,85 Bill. Euro bemessene Pandemic Emergency Purchase Programme (PEPP) ist bis Ende März 2022 befristet. Einige Beobachter hatten bereits jetzt mit ersten Hinweisen über eine mögliche Fortsetzung der Anleihekäufe gerechnet, entweder als Teil des regulären Anleihekaufprogramms APP oder in Form eines neuen Programms. Entsprechende Spekulationen hatte Lagarde im Vorfeld genährt. Jegliche Hinweise blieben aus. PEPP sei bei der Sitzung überhaupt nicht zur Sprache gekommen, sagte Lagarde.
Weidmann schert aus
Ihren Fokus legten die Währungshüter also ganz darauf, den Zinsausblick an ihr vor zwei Wochen aktualisiertes Rahmenwerk anzupassen. An Zinserhöhungen ist demnach erst zu denken, wenn die Inflation sich für längere Zeit auf dem Zielwert von 2% stabilisiert hat. Phasen, in den die Teuerungsrate lediglich vorübergehend 2% übersteigt, genügen explizit nicht, dass die EZB gegensteuert. Wörtlich heißt es: „Dies könnte auch eine vorübergehende Phase bedeuten, in der die Inflation moderat über dem Zielwert liegt.“
Mit dieser Formulierung nimmt die EZB ein sogenanntes Überschießen der Inflation ausdrücklich in Kauf. Sie konkretisiert damit ihre strategische Neuausrichtung, wonach zu niedrige Inflationsraten als genauso unerwünscht gelten wie eine zu hohe Teuerung. Vereinzelten Mitgliedern des 25-köpfigen EZB-Rats war die nun gefundene Formel für die praktische Geldpolitik offenbar zu weitreichend. Übereinstimmenden Berichten zufolge lehnten Bundesbankchef Jens Weidmann und seine Kollege Pierre Wunsch aus Belgien den neuen Zinsausblick ab. Die Nachrichtenagenturen Bloomberg und Reuters beriefen sich auf nicht näher benannte informierte Kreise.
Einige Volkswirte sehen in dem neuen Zinsausblick eine klare Botschaft, dass die Zinsen im Euroraum noch deutlich länger niedrig bleiben. Die Messlatte für Zinserhöhungen sei nun „deutlich höher gelegt“, bemerkte etwa Deka-Chefvolkswirt Ulrich Kater. „Das bedeutet implizit auch längere Anleihekaufprogramme.“ Carsten Brzeski, Chefvolkswirt der ING, schrieb, die EZB habe Spekulationen über ein Zurückfahren der Anleihekäufe, im Fachjargon Tapering, „einen Riegel vorgeschoben“. Andere Ökonomen betonten, Zinserhöhungen seien „in weite Ferne“ gerückt. Aus Interessenverbänden der Bankenbranche kam Kritik.
EZB-Chefin Lagarde stellte in Abrede, dass es den Notenbankern um ein Festzurren der Dauerniedrigzinsen gegangen sei. „Es ist nicht unsere Absicht, die Zinsen für längere Zeit niedrig zu halten.“ Es gehe darum, das Inflationsziel von 2% zu erreichen. Sie betonte, es habe Einigkeit bestanden, die geldpolitische Unterstützung nicht zu früh zurückzufahren. Beabsichtigt sei, „eine vorzeitige Straffung der Geldpolitik, die der wirtschaftlichen Erholung abträglich wäre, zu verhindern“. Sie bezeichnete die Ausbreitung der Delta-Variante des Coronavirus als zunehmendes Risiko für eine starke Erholung im Euroraum.