Fumio Kishida

Abes mutloser Erbe

Die Ambitionslosigkeit des Premierministers Fumio Kishida könnte Japan weitere vertane Jahre voller Stillstand einbringen. Reformeifer? Fehlanzeige.

Abes mutloser Erbe

Zweifellos war Shinzo Abe der einflussreichste Politiker Japans in diesem Jahrhundert. Von allen Premierministern seit 1890 regierte er am längsten, er machte Japan wieder zu einem wahrnehmbaren globalen Akteur, verankerte das Land fest in Asien und ging mit den Abenomics neue ökonomische Wege, um die Deflation zu vertreiben. Nach seinem Rücktritt vor knapp zwei Jahren behielt er viele Fäden in der Hand und be­stimmte die politische Agenda weiter mit. Sein jäher Tod von der Hand eines von Rache getriebenen Attentäters hinterlässt ein Machtvakuum bei den Liberaldemokraten (LDP), die das Inselland seit 1955 fast ununterbrochen regieren.

Aus dem Ableben von Abe ergibt sich jedoch, so pietätlos es klingen mag, für Premierminister Fumio Kishida eine Chance, der japanischen Politik seinen eigenen Stempel aufzudrücken. Er hat zuerst die Unterhauswahl im Oktober und dann die Oberhauswahl am vergangenen Sonntag deutlich gewonnen, wenn auch teils wegen der schwachen Opposition. Mit dem kleinen Partner Komeito kontrolliert seine Koalition nun zwei Drittel der Sitze. Damit kann Kishida „drei goldene Jahre“ lang durchregieren, da der nächste Urnengang erst im Herbst 2025 ansteht. Er hätte also die Macht und Zeit, schwierige ökonomische Strukturprobleme anzupacken – von der rapiden Alterung mit ihren explodierenden Gesundheitskosten bis zum Facharbeiter- und generellen Arbeitskräftemangel. Auch die Dekarbonisierung der Wirtschaft drängt, weil Japan stärker als Deutschland von fossilen Energieträgern abhängt. Hier könnte das beschleunigte Hochfahren von Atommeilern und der schnellere Bau von Offshore-Windparks helfen.

Leider fehlen bisher die Anzeichen dafür, dass der 64-Jährige seine Chance nutzen kann. Abe hielt ihm die Steigbügel bei der Wahl zum LDP-Chef und damit an die Regierungsspitze. Als Gegenleistung steuerte Kishida Japans Außen- und Wirtschaftspolitik auf dem gleichen Kurs wie zuvor Abe. Ohne ihn hätte er nun freie Hand. Doch am Montag wollte er nichts von „goldenen Jahren“ wissen und beteuerte, auf Abes „Errungenschaften“ aufbauen zu wollen.

Wahrscheinlich geht es Kishida, der zur liberalen LDP-Minderheit gehört, nur darum, sich die Unterstützung der dominierenden Rechten zu sichern. Aber seine Mutlosigkeit könnte Japan weitere vertane Jahre voller Stillstand einbringen. Noch tragischer wäre, wenn Kishida sein politisches Kapital dafür einsetzt, Abes Lebenstraum von einer Verfassungsreform anzupacken und sich auf diese Weise in die Geschichtsbücher einzutragen. Aufgrund seines moderaten Images könnte Kishida die umstrittene Abkehr vom Pazifismus sogar gelingen. Aber der Wohlstand lässt sich so nicht vermehren.

Seine wirtschaftspolitische Agenda hat Kishida bisher jedenfalls nur in groben Zügen umrissen. Junichiro Koizumi konzentrierte sich auf die Privatisierung der Post, Shinzo Abe auf die Ankurbelung des Wachstums. Kishida propagiert einen „neuen Kapitalismus“, der die gewachsene Un­gleichheit verringern soll. Aber die notwendigen Maßnahmen – außer der steuerlichen Förderung von Lohnanhebungen – blieben im Nebel. Im Wahlkampf kündigte Kishida lediglich die Umschulung von einer Million Arbeitnehmer für Jobs in Wachstumsbranchen an. Darüber hinaus versprach er staatliche Fördermittel für Wissenschaft und Innovation, Start-ups sowie den grünen und digitalen Wandel.

Als er sich im September vergangenen Jahres um den Posten des Parteichefs bewarb, hatte Kishida noch die Abenomics-Politik für die Kapitalismuskrise mitverantwortlich ge­macht. Wachstum allein bringe kein Glück, sagte er. Aber als Regierungschef setzte er – auch unter dem Erwartungsdruck von Abe – auf die vertrauten Instrumente, verteidigte die ultralockere Geldpolitik als notwendig und schnürte dicke Fiskalpakete. Reformeifer – Fehlanzeige. Alibimäßig redete er von einem „positiven Kreislauf von Wachstum und Verteilung“.

Dabei zeigen die Rückkehr der Inflation und der Verfall des Yen, dass das Festhalten am Nullzins inzwischen mehr schadet als nutzt. Spätestens wenn er den Nachfolger von Notenbankchef Haruhiko Kuroda auswählt, muss Kishida Farbe bekennen, ob die Geldpolitik ab April 2023 in eine andere Richtung laufen soll. Angesichts seiner Ambitionslosigkeit sollte man jedoch besser davon ausgehen, dass sich auch unter der neuen Führung an Japans Geldpolitik wenig ändern wird.

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