Am Ende muss jemand die Zeche bezahlen
Am Ende muss jemand die Zeche bezahlen
Italien lebt seit vielen Jahren über seine Verhältnisse. Alle Regierungen behaupteten, die üppigen Festmahle kosteten nichts. Das war ein Trugschluss.
Von Gerhard Bläske, Mailand
So wie alle anderen EU-Länder legt auch Italien nun den Haushaltsentwurf für 2025 vor. Und so wie praktisch alle Haushalte der letzten Jahre wird auch dieser unseriös sein. Denn trotz der seit Jahrzehnten steigenden Verschuldung, die nach Schätzungen der EU-Kommission von 137,3% im vergangenen Jahr auf 141,7% im Jahr 2025 wachsen wird, plant Premierministerin Giorgia Meloni weitere Geschenke an die Wähler: Steuersenkungen und familienpolitische Maßnahmen vor allem. Rom geht davon aus, dass die Schulden dennoch nicht steigen, auch weil die Steuereinnahmen stärker sprudeln als erwartet.
Carlo Cottarelli, früherer IWF-Ökonom und Professor an der Katholischen Universität in Mailand, erwartet jedoch „in den nächsten zwei, drei Jahren weiter steigende Schulden. Das liegt an den großzügigen Hilfen für die ökologische Sanierung von Gebäuden, dem Superbonus 110“, sagte er der Börsen-Zeitung. Wichtig ist es aus seiner Sicht, dass das Haushaltsdefizit von 7,4% im vergangenen Jahr „in diesem Jahr und 2025 sinkt“. Und er mahnt die Regierung: „Wir müssen die Ärmel hochkrempeln. Die Ausgaben müssen weniger stark wachsen als die Einnahmen.“
Veronica De Romanis, Wirtschaftsprofessorin an der römischen Luiss-Universität, ist skeptisch: „In den letzten Jahren haben wir ein Crescendo von Versprechungen erlebt, die fast immer als unverzichtbar, lebenswichtig und dringend dargestellt wurden − und vor allem als kostenlos. Auf diese Weise steigen jedoch die Kosten, und wir alle sind es, die die Schulden bezahlen.“ In ihrem Buch „Il Pasto Gratis“ („Die Gratis-Mahlzeit“) hat sie die diversen Versprechungen aller Regierungen seit dem Reformer Mario Monti (2011 bis 2013) aufgelistet. Der Buchtitel lehnt sich an Milton Friedmans „There’s no such thing as a free lunch“ an. Er wusste, dass immer irgendjemand für die Kosten aufkommen muss.
Der Hinweis der Professorin, dass es alle Italiener (oder Europäer) sind, die die Schulden zahlen, ist wichtig. Denn Italiens Regierungen haben stets suggeriert, die Geschenke seien kostenlos. Das Geld würde durch daraus resultierende Mehreinnahmen hereingeholt.
Nachdem der EU-Stabilitäts- und Wachstumspakt mehrere Jahre ausgesetzt war, drohen Italien mit dem reformierten Pakt Sanktionen – zumindest theoretisch. „Es ist ein ziemliches Durcheinander. Warten wir nun, was von Italien verlangt wird“, meint De Romanis und fügt hinzu: „In der Vergangenheit wurden nie Sanktionen verhängt, obwohl die Schulden beständig gestiegen sind. Europa sanktioniert niemanden, weil es keine Länder der gleichen politischen Familie sanktionieren wollte. Das ist eine Schwäche aller Europäischen Kommissionen der letzten Jahre. Sie haben fast alle den italienischen Regierungen viel Flexibilität zugestanden.“
Und die Regierungen aller politischen Couleur waren stets großzügig, wenn es darum ging, (nicht vorhandene) Gelder großzügig zu verteilen. Matteo Renzi führte eine Bonuszahlung von 80 Euro für die Steuerzahler ein. Die Populistenregierung aus den Fünf Sternen und der rechten Lega setzte de facto Montis Rentenreform aus und senkte das Renteneintrittsalter auf 62. Außerdem führte sie das bedingungslose Grundeinkommen ein, ursprünglich mit dem Ziel, den Betroffenen Arbeit zu vermitteln, was allenfalls in Einzelfällen gelang. Die zweite Regierung von Premierminister Giuseppe Conte, diesmal mit den Sozialisten, richtete den Superbonus 110 und andere Maßnahmen ein: Der Staat übernahm die Kosten für die ökologische Sanierung von Gebäuden vollständig und legte sogar noch etwas drauf. Kosten für den Steuerzahler allein dieser Maßnahme: 200 Mrd. Euro. Das sei „gratis für die Familien, aber nicht für den Staat“, so Conte in einer seltsamen Logik. Mario Draghi schließlich tastete den Superbonus nicht an, senkte sogar zusätzlich die Steuern und führte auch noch diverse Boni ein, etwa für Psychologen, den Kauf von Fahrrädern, Möbeln oder Elektrogeräten. Und die Schulden stiegen immer weiter.
Reformen nicht umgesetzt
Zusätzlich profitierte Italien davon, dass die Europäische Zentralbank italienische Staatsanleihen im Volumen von insgesamt 300 Mrd. Euro aufkaufte und die Zinsen extrem niedrig hielt. Antonio Patuelli, Präsident des Bankenverbands ABI, erinnert daran, „dass Italien ohne die Einheitswährung nicht seit 20 Jahren so niedrige Zinsen hätte“. Anfang der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts lagen sie bei 15%. Ohne Europa wäre das Land längst pleite. Rom erhält darüber hinaus mehr als 220 Mrd. Euro aus dem europäischen Wiederaufbauprogramm „Next Generation“ und diversen anderen europäischen Programmen. Die Gemengelage aus Niedrigstzinsen, der Nachsicht der EU und vielerlei Hilfen hat dazu geführt, dass der Eindruck entstand, Geld sei im Übermaß da. Doch die damit verbundenen Verpflichtungen, Reformen etwa des Wettbewerbsrechts, der Verwaltung oder der Justiz, wurden nicht oder nur unzureichend umgesetzt.
Laut Cottarelli braucht es für 2025 etwa 20 Mrd. Euro und ab 2027 etwa 25 Mrd. Euro, um das Defizit zu reduzieren. Ausgerechnet jetzt bringt Ex-Premier Mario Draghi den Vorschlag ins Spiel, ein teilweise durch gemeinsame europäische Schulden finanziertes Programm in Höhe von jährlich (!) 800 Mrd. Euro für „notwendige“ Investitionen aufzulegen. „Das ist ein perfektes Alibi für Politiker, um Geld auszugeben“, meint De Romanis. Politiker seien findig, wenn es darum gehe, Ausgaben als notwendig zu bezeichnen.
Sie plädiert dafür, den Dschungel aus rund 620 Steuersonderregelungen im Umfang von 110 Mrd. Euro auszulichten. „Ein Großteil davon kommt nur den Reichen zugute“, meint sie. Sie weist darauf hin, dass Italien „jährlich 85 Mrd. Euro allein für Zinsen ausgibt. Auch wenn diese jetzt sinken, werden sie höher bleiben als in der Vergangenheit.“
Wie schwierig es ist, bei den Ausgaben zu sparen, weiß Cottarelli. Er war 2013 von Premierminister Enrico Letta mit einer Spending Review beauftragt worden, schmiss aber 2014 das Handtuch. Kaum einer seiner Vorschläge wurde umgesetzt. Heute sagt er: „Man muss eine umfassende Ausgabenüberprüfung machen und die Steuersonderregelungen reduzieren. Die Regierung wird etwas machen. Schauen wir mal was.“
Italien hat die Jahre mit niedrigen Zinsen und der Brüsseler Nachsicht nicht genutzt, um das Land zukunftsfest zu machen. Nirgendwo sonst in Europa ist etwa die Beschäftigungsquote in der Gruppe der 15- bis 64-Jährigen so niedrig (61,5%). Besonders schlecht ist die Lage für Jüngere, Ältere und Frauen. Und nirgendwo sonst arbeiten so wenige der über 60-Jährigen. Die Geburtenrate ist dramatisch niedrig. Die Ratingagentur Scope erwartet, dass Italien Griechenland in den nächsten vier Jahren als Schulden-Europameister ablöst. Anders als Rom haben Athen und Lissabon ihre Schulden deutlich reduziert. Rom hat nichts gelernt: Der geplante Bau einer Brücke nach Sizilien etwa, derzeit mit 13 Mrd. Euro kalkuliert, ist ökonomischer Unsinn.
Schlecht gerüstet
Italien ist nach Ansicht vieler Experten schlecht gerüstet für mögliche neue ökonomische Schocks. Der Ökonom Rudi Dornbusch schrieb einst: „Es dauert viel länger, als man denkt, bis Finanzkrisen kommen, aber wenn sie dann da sind, geht alles viel schneller, als man gedacht hätte.“