US-Arbeitsmarkt

Arbeitnehmer sitzen am längeren Hebel

Die Knappheit an Arbeitskräften in den USA bereitet Unternehmen zunehmend Probleme. Höhere Löhne scheinen das effektivste Mittel dagegen zu sein. Das aber verstärkt den Lohndruck und kann zu höherer Inflation führen.

Arbeitnehmer sitzen am längeren Hebel

Von Peter De Thier, Washington

Nach widersprüchlichen Zahlen, die seit Oktober letzten Jahres keinen klaren Trend am US-Arbeitsmarkt erkennen ließen, scheint sich die Beschäftigungslage im Sommer zu stabilisieren. Hohe Impfquoten, die beschleunigte Öffnung der Wirtschaft, eine rege Konsumnachfrage und wachsende Zuversicht bei Unternehmen haben im Juni zu 850000 Neueinstellungen geführt. Die meisten Ökonomen rechnen auch in den kommenden Monaten mit mehr Neueinstellungen. Dennoch gibt der Arbeitsmarkt Experten Rätsel auf.

Schließlich hatten im vergangenen Monat fast sieben Millionen weniger Menschen einen Arbeitsplatz als im Februar 2020, dem letzten Monat, bevor die Corona-Pandemie die Wirtschaft zum Stillstand brachte. Schwer nachvollziehbar ist für viele Volkswirte, warum sich Arbeitslose nicht um jene mehr als neun Millionen unbesetzten Stellen bewerben, die registriert sind.

Die Antwort besteht in einer Kombination aus staatlichen Hilfsmaßnahmen, strukturellen Veränderungen in der Wirtschaft und wachsendem Selbstvertrauen der Arbeitnehmer, die den Luxus haben, zwischen mehreren Jobangeboten wählen zu können. So versuchen Arbeitnehmer in zunehmendem Maße, neue Mitarbeiter mit höheren Löhnen anzulocken. Das wiederum könnte eine höhere Teuerungsrate nach sich ziehen und auch den zeitlichen Fahrplan der Notenbank beeinflussen, die bereits laut über einen Abbau ihrer Anleihenkäufe nachdenkt und dafür diese Woche weitere Signale liefern könnte.

Die Republikaner ihrerseits behaupten, sie hätten die Arbeitskräfteknappheit schon vor Monaten kommen sehen. Nachdem der „American Rescue Plan“, Joe Bidens 1,9 Bill. Dollar teures Konjunkturpaket im März verabschiedet wurde, sagten sie, dass das Gesetz einen Anreiz darstelle, auf die Jobsuche zu verzichten. Neben einmaligen, direkten Zuschüssen sah das Gesetz eine Zahlung von 300 Dollar pro Woche an Erwerbslose vor, die das Arbeitslosengeld, das die Bundesstaaten bestreiten, ergänzte. In schlechter bezahlen Branchen, beispielsweise dem Gastgewerbe und Einzelhandel, würden Millionen von Menschen es folglich vorziehen, die großzügige staatliche Hilfe in Anspruch zu nehmen und zuhause zu bleiben, argumentierte die Oppositionspartei.

Zunächst schienen die republikanischen Kritiker Recht zu behalten. Dann aber reagierten große Unternehmen wie Amazon, Walmart sowie zahlreiche Restaurant- und Fast-Food-Ketten und selbst Bank of America auf das knappe Angebot an Jobsuchenden mit einer freiwilligen Anhebung ihrer Mindestlöhne. „Das war ein klarer Beweis dafür, dass plötzlich die Arbeitnehmer am längeren Hebel sitzen“, sagt Nick Bunker, Ökonom beim Online-Arbeitsvermittler Indeed. Mit den höheren Löhnen konnten Arbeitslose aus der Reserve gelockt werden. So machten im Juni das Gast- und Hotelgewerbe, die Freizeitindustrie und der Handel fast drei Viertel der neuen Stellen aus. Eine zusätzliche Motivation für die Jobsuche wird künftig auch darin bestehen, dass Ende August das zusätzliche Arbeitslosengeld, das der Fiskus auszahlt, auslaufen wird.

Knappheit bei Fachkräften

Auch strukturelle Veränderungen tragen zu den Engpässen bei und verstärken den Lohndruck. Darauf weist eine Studie der Investmentbank Morgan Stanley hin. Demnach ist eine auffallende Knappheit bei qualifizierten Kräften in besser bezahlten Branchen zu beobachten. „Bei früheren Expansionen waren es Sektoren wie die Gastronomie und der Einzelhandel, die zu wachsendem Lohndruck führten, heute sind es vor allem Fachdienstleister“, sagt Morgan-Stanley-Ökonom Robert Rosener. So haben laut Rosener Arbeitgeber große Schwierigkeiten, Stellen für Marketing- und Medien-Manager, Juristen, Immobilienmakler, Journalisten und Jobs im Flugverkehr zu besetzen.

Wegen der höheren Bezahlung, die in diesen Branchen notwendig sein wird, um die Knappheit zu überwinden, halten Experten für möglich, dass in den kommenden Monaten der Arbeitskostenindex (ECI) des Bureau of Labor Statistics (BLS) noch stärker zulegen wird als bisher. Dabei war der ECI im ersten Quartal bereits um 0,9% gestiegen – so deutlich wie seit 14 Jahren nicht mehr.

Zwar bieten Arbeitgeber auch andere Anreize, etwa die Möglichkeit, permanent vom Homeoffice aus zu arbeiten oder sogenannte „Signing Bonuses“, also Antrittsboni, die bei der Vertragsunterzeichnung gezahlt werden. Als effektivstes Instrument, um die Knappheit an geeigneten Arbeitskräften zu überwinden, haben sich aber höhere Gehälter bewährt.

So kletterten die durchschnittlichen Stundenlöhne im Juni im Vorjahresvergleich um 3,6%. Das wird auch jene Mitglieder des Notenbankvorstands aufhorchen lassen, denen die steigende Inflation zunehmend Sorgen bereitet. Schließlich hatte die Fed-Gouverneurin Lael Brainard kürzlich gesagt, dass eine dauerhaft höhere Inflation mehr als einen Anstieg der Arbeitskosten während der Öffnung der Wirtschaft voraussetzt. „Außerdem müsste sich an den Märkten die Überzeugung durchsetzen, dass die Löhne und Preise kontinuierlich steigen werden“, so Brainard. Dieser Zustand könnte bereits gegeben sein. Schließlich haben sich die Lohnsteigerungen nun drei Monate in Folge beschleunigt, und einige Experten rechnen bald mit einer Jahresrate, die an 4% heranreichen könnte.