Arbeitskampfregeln überfällig
Streikjahr 2024
Arbeitskampfregeln überfällig
Von Stephan Lorz
Streiks sind ein unveräußerliches Recht der Gewerkschaften. Doch sie müssen auf die Arbeitgeber zielen und dürfen die Wirtschaft nicht lahmlegen.
Gefühlt befindet sich halb Deutschland im Moment im Ausstand: Nach den Lokführern streikten die Bus- und U-Bahn-Fahrer, einige Kliniken mussten wegen Warnstreiks auf Notbetrieb umstellen, dann war dieser Tage die Lufthansa dran und musste große Einschnitte im Flugplan vornehmen. Und seit Monaten streikt immer wieder das Personal im Einzelhandel. Aber es kommt noch mehr auf uns zu: Im Baugewerbe stehen Lohnrunden an, ebenso in der chemischen Industrie sowie in der Metall- und Elektroindustrie. Außerdem enden Tarifverträge bei der Post und im öffentlichen Dienst von Bund und Kommunen. Insgesamt Tarifverhandlungen für etwa 12 Millionen Beschäftigte.
Die Statistik zeichnet indessen ein eher verhaltenes Streikbild für Deutschland: In den Jahren 2012 bis 2021 sind im Schnitt 18 Arbeitstage pro 1.000 Beschäftigten pro Jahr wegen Streiks ausgefallen. In Frankreich und Belgien waren es 92 bzw. 96 Tage. Auch anderswo ist die Streikhäufigkeit größer. Aber schon 2022 und 2023 wurde auch in Deutschland mehr gestreikt, stellen Ökonomen fest; und 2024 werde es nochmal mehr. Das hat seinen Grund in der Teuerung, die viele Erwerbstätige Kaufkraft gekostet hat, aber auch in der neuen Situation auf dem Arbeitsmarkt und einer grassierenden Unzufriedenheit insgesamt.
Vor allem hat sich das Kräfteverhältnis am Arbeitsmarkt gewandelt: Er ist aus demografischen Gründen von einem Arbeitgeber- zu einem Arbeitnehmermarkt mutiert. Es gibt 1,8 Millionen offene Jobs. Unternehmen suchen händeringend Mitarbeiter, nicht nur Facharbeiter. Das erlaubt den Beschäftigten, mehr Risiken einzugehen, macht sie selbstbewusst, mehr zu fordern. Obendrein melden Gewerkschaften, die zuletzt viele Abgänge hatten unter ihren Mitgliedern, wieder Zuwachs. Auch die Tarifbindung, die in den vergangenen Jahren auf nur noch 41% der Beschäftigten gefallen ist, legt inzwischen wieder zu. Zumal eine EU-Richtlinie eine Quote von 80% anstrebt. In Deutschland soll das Tariftreuegesetz dazu verhelfen. Das gibt den Gewerkschaften Rückenwind, mehr Macht.
Und insgesamt wird das Klima aggressiver, wie man nicht zuletzt bei den Bauerndemonstrationen sehen kann. Die Unzufriedenheit mit der Bundesregierung wächst, weil ihr immer weniger noch abnehmen, dass sie die großen politischen Herausforderungen, die da heißen Kanalisierung der Zuwanderung und Integration der Zugewanderten, Strukturwandel und klimatische Transformation der Wirtschaft sowie Digitalisierung aller Sektoren noch meistern kann. Sie ist zerstritten und widmet sich mit Inbrunst eher Nebensächlichkeiten statt den Anliegen der breiten Bevölkerung, so scheint es. Und diese Unzufriedenheit schlägt auch auf die Werktätigen durch. Die Streiks werden härter und thematisieren nicht mehr nur Tarifanliegen.
Die neue Aggressivität der Arbeitskämpfe ist besonders dann sicht- und spürbar, wenn nicht nur der eigentliche Adressat im Fadenkreuz der Streikenden steht, sondern die ganze Bevölkerung instrumentalisiert wird. Das betrifft etwa Streiks bei Infrastrukturbetreibern wie Bahn, Fluggesellschaften, öffentlicher Nahverkehr, medizinische und energetische Dienstleistungen. Wenn solche Ausstände dann auch noch mehr werden und damit obendrein dem Wirtschaftsstandort massiv schaden, muss die Frage gestellt werden, wie zumindest die Auswirkungen auf die Allgemeinheit gemindert werden können.
In anderen Ländern mit mehr Dauerstreikerfahrung hat der Gesetzgeber längst reagiert: zwingender Notbetrieb, Schlichtungszwang, eingeschränkte Streikzeiten bei Verkehrsbetrieben – zudem wird die Verhältnismäßigkeit eines Ausstands rigider bewertet. Denn Arbeitskämpfe dürfen eine Gesellschaft nicht in Geiselhaft nehmen für die Anliegen einer Gruppe. Ein Arbeitskampfrecht, das bisher in Deutschland nicht existiert, wäre auch kein Sargnagel für die Tarifautonomie, wie es Politik und Gewerkschaften gerne darstellen. Freiheitsrechte werden hierzulande an vielen Stellen aus Gemeinwohlgründen eingeschränkt, ob im Straßenverkehr oder sonst im öffentlichen Leben, ohne dass dies gleich als Freiheitsentzug wahrgenommen wird.