Atomstrategie mit vielen ungeklärten Fragen
wü Paris
Vier, sechs, zehn oder mehr: Zumindest in der Frage, ob Frankreich neue Atomkraftwerke bauen soll, sind sich die vier derzeit in Umfragen vorn liegenden Präsidentschaftskandidaten einig. Sie alle setzen auf die Atomindustrie. Lediglich bei der Zahl der vorgeschlagenen Reaktoren unterscheiden sich Emmanuel Macron, Valérie Pécresse, Marine Le Pen und Éric Zemmour. Amtsinhaber Macron hat bereits den Ton vorgeben und den Bau von sechs EPR-Druckwasserreaktoren, einer neuen Generation, bis 2050, eine Option für acht weitere sowie die Verlängerung der Laufzeiten der derzeit von EDF (Electricité de France) betriebenen 56 Reaktoren wenn möglich auf über 50 Jahre angekündigt. Dazu sollen modulierbare und innovative Reaktoren kommen.
Teure Pläne
Damit dieser ehrgeizige Plan umgesetzt werden kann, muss Macron zunächst wiedergewählt werden. Anschließend muss er das unter seinem Vorgänger François Hollande 2015 verabschiedete Energiewendegesetz und das zuletzt 2021 geänderte, mehrjährige Energieprogramm modifizieren. Denn darin ist eigentlich vorgesehen, bis 2035 insgesamt 14 von 58 Reaktoren stillzulegen, einschließlich der beiden Reaktoren des 2020 nach 43 Jahren vom Netz genommenen Atomkraftwerks in Fessenheim. Das unter Hollande angepeilte Ziel, den Anteil des Atomstroms an der Stromproduktion bis 2025 von 75% auf 50% zu senken, hat Macron bereits auf 2035 verschoben.
Doch selbst wenn Macron wie derzeit erwartet wiedergewählt und die Gesetze geändert werden sollten, lässt seine Atomstrategie viele Fragen offen. So ist unklar, ob die französische Nuklearindustrie überhaupt in der Lage sein wird, seinen ehrgeizigen Plan einzuhalten. Ob und unter welchen Umständen die Laufzeit der Reaktoren auf mehr als 50 Jahre ausgedehnt werden kann, ist ebenfalls ungeklärt. Die Verlängerung nicht gesichert, warnte Bernard Doroszczuk, der Vorsitzende der Atomsicherheitsbehörde Autorité de Sûreté Nucléaire, kürzlich. Szenarien, die von mehr als 60 Jahren ausgingen, beruhten auf nicht gerechtfertigten Hypothesen. Für den Bau neuer Reaktoren sei ein wahrer Marshall-Plan notwendig, meint Doroszczuk.
Schleierhaft bleibt vor allem, wie die von Macron gewünschte Renaissance der Atomkraft finanziert werden soll. Allein der Bau der sechs EPR-Reaktoren dürfte 50 Mrd. Euro kosten. Mindestens, denn die zuletzt auf 12,7 Mrd. Euro geschätzten Kosten des ersten französischen EPR-Reaktors in Flamanville in der Normandie haben sich nahezu vervierfacht, die des ersten europäischen im finnischen Okiluoto verdreifacht. Beide Projekte haben sich um mehr als zehn Jahre verzögert. Dazu kommen die Kosten für die gewünschte Verlängerung der Laufzeiten und die damit einhergehenden Instandhaltungsmaßnahmen.
Verstaatlichung denkbar
EDF ächzt bereits jetzt unter einer Nettoverschuldung von zuletzt 41 Mrd. Euro. Der Stromriese, dem seit 2016 auch der Kraftwerksbauer Framatome gehört, hat erst im Januar vor neuen finanziellen Belastungen gewarnt. So dürften sich die von der Regierung aufgezwungenen Maßnahmen zur Deckelung der Strompreise 2022 mit 7,7 bis 8,4 Mrd. Euro auf sein Ergebnis vor Zinsen, Steuern und Abschreibungen (Ebitda) auswirken. EDF-Chef Jean-Bernard Lévy dürfte sich diesen Freitag dazu äußern, wie er die Bilanz stärken will, wenn er die Ergebnisse für 2021 präsentiert. Kurzfristig sieht es für den Versorger nicht sehr rosig aus. Er ist zusätzlich unter Druck geraten, weil mehrere Reaktoren für coronabedingt verschobene Wartungsarbeiten abgeschaltet werden mussten. Bei einigen wurden zudem Korrosionsanomalien am Kreislauf des Notkühlsystems sowie einem anderen Kühlkreislauf festgestellt. EDF hat deshalb gerade angekündigt, die Kontrollen ausdehnen zu müssen. Dafür müssen die Reaktoren mindestens fünf Wochen stillgelegt werden. Der Stromkonzern hat die Produktionsprognose für 2022 seit Beginn des Jahres bereits zweimal gesenkt, für 2023 einmal. Für 2022 erwartet er nun statt 330 bis 360 TWh nur noch 295 bis 315 TWh, für 2023 dann 300 bis 330 TWh statt 340 bis 370 Twh.
Der verlängerte Stillstand der Reaktoren dürfte die Margen von EDF zumindest in diesem Jahr stark erodieren, schätzt Fitch. Die Ratingagentur hat den Versorger deshalb im Januar auf „BBB+“ mit negativem Ausblick herabgestuft. Beobachter halten eine Rekapitalisierung von EDF inzwischen für unausweichlich. Wirtschaftsminister Bruno Le Maire schließt sogar eine Verstaatlichung nicht aus. Alle Optionen lägen auf dem Tisch, sagte er dem Wirtschaftssender BFM Business. Den französischen Staat würde eine Verstaatlichung des Konzerns, an dem er seit dem Börsengang 2005 noch knapp 84% hält, rund 5 Mrd. Euro kosten. Die Aktie von EDF hat seit Beginn des Jahres fast 20% nachgegeben.