Auf dem Highway to Hell
Mit Schnappschüssen aus der Weinabteilung eines russischen Supermarktes wollte mich dieser Tage ein alter russischer Freund unterhalten. Auffälligerweise nämlich war sein Auge nicht an exotisch benamten Chardonnays aus Frankreich oder etwa Marqués de Vargas aus Rioja – alles Weine, für die er sich leidenschaftlich interessiert – hängen geblieben. Was ihn mehr beschäftigte, waren Sorten und Marken, die er bislang nicht gesehen hatte. Etwa einen Roséwein von der im Jahr 2014 annektierten ukrainischen Halbinsel Krim mit dem Werbeslogan auf dem Etikett: „Nichts ziert eine junge Frau so sehr wie ein Glas My Rose“. Weil das Wort „zieren“ im Russischen aber neben der Hauptbedeutung „schön machen“ auch noch einen leichten Anklang Richtung „erröten lassen“ hat, mag hier jeder herauslesen, was er will.
Ohnehin wies mein Bekannter, nennen wir ihn der Einfachheit halber Igor, mehr auf zwei andere Weinmarken hin, die er ob ihrer Bezeichnungen fotografisch festhielt. Zum einen auf den Monastrell-Rotwein namens „Highway to Hell“, produziert vom Gut Wines N’ Roses Viticultores in Valencia. Und gleich daneben auf den Roséwein „Tal der Gespenster“, benannt nach der gleichnamigen Felsformation im Südosten der Krim, wo das sogenannte Brockengespenst zu sehen ist: Es erscheint, indem der Schatten des Betrachters auf die Oberfläche des Nebels fällt und zeitweise richtig groß wird bzw. durch die Rückstreuung von Licht mit einer Glorie umgeben ist. Einmal abgesehen davon, dass es sich plötzlich schnell bewegen kann, weil die Nebelwolken sich ja bewegen und die Dichte der Wolken sich verändert. „Auf dem Highway to Hell rasen wir ins Tal der Gespenster“, schrieb mir Igor unter die Fotos und sah in der Reihenfolge, in der er mit den Seinen die Flaschen leerte, ein Sinnbild für die Entwicklung seines Landes.
Wahrlich gespenstisch ergeht es derzeit einem anderen Bekannten, nennen wir ihn Alfred. Kein Russe, sondern jemand aus einem deutschsprachigen Land. Er muss gerade schmerzhaft erfahren, dass das Leben für diejenigen verdammt kompliziert und sündteuer geworden ist, die heute mit Russland noch in einem Ausmaß zu tun haben, das über den täglichen Nachrichtenkonsum hinausgeht. Alfred hat intensiv mit Russland zu tun, schließlich leben seine zwei minderjährigen Kinder dort mit seiner geschiedenen Frau. Er muss daher monatlich seine Alimente aus der EU nach Russland überweisen – erstens weil ihm seine Kinder am Herzen liegen, und zweitens weil er bei Nichtbezahlung in Russland umgehend einen Strafprozess am Hals hätte. Der 47-jährige Mann, der wohlgemerkt sehr gut verdient, überwies also vor Kriegsbeginn monatlich 1470 Euro Kindesunterhalt an seine russische Exfrau in Moskau. Zumindest bis Mai. Seither nämlich muss er satte 2800 Euro berappen. Was war geschehen?
Nun, vor allem wurde der Rubel, der nach Beginn des russischen Angriffskrieges in der Ukraine kurz absackte, inzwischen extrem stark, weil Russland hohe Einnahmen aus dem Öl- und Gasexport hat, infolge der westlichen Sanktionen aber nur eingeschränkt im Westen einkaufen kann. Dazu kam neben einer Inflationsanpassung aber noch ein drittes Problem: Da der Westen große russische Banken sanktioniert und vom globalen Zahlungsabwicklungssystem Swift ausgeschlossen hat, müssen die Transaktionen auf einem anderen Weg stattfinden. Und das geht im Falle Alfreds – und wohl in allen anderen Fällen – so: Vom Euro-Konto bei einer der wenigen verbliebenen westlichen Korrespondenzbanken geht das Geld auf ein Euro-Konto bei einer der nicht sanktionierten Banken in Russland. Dort wird es in Rubel getauscht, wobei die Bank den offiziellen Wechselkurs mit weiteren etwa 9% zu ihren Gunsten dreht. Erst danach werden die Rubel der Empfängerin weitergeleitet, die ihr Konto eben bei einer der sanktionierten Banken hat. „Allein für die diversen Bankspesen zahle ich nun pro Überweisung 150 Euro zusätzlich“, so Alfred. „Da verdienen sich einige Banken blöd.“ Er selbst zieht übrigens nach knapp 20 Jahren Erfahrung in Osteuropa nun nach Afrika. Und wird dort unter anderem mit russischen IT-Unternehmen zu tun haben. Viele sind schon lange dort tätig – und manche seit Kriegsbeginn dorthin emigriert.