Brasilien drohen gefährliche Zeiten
Von Andreas Fink, Buenos Aires
Zu Beginn der heißen Phase des brasilianischen Wahlkampfs kann Amtsinhaber Jair Bolsonaro den Rückstand auf Ex-Präsident Lula verkürzen. Acht Wochen vor den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen meldete das Demoskopie-Institut PTG/FSB, dass der Abstand zwischen dem rechtspopulistischen Amtsinhaber und seinem linken Herausforderer auf sieben Punkte geschrumpft sei. Der Gründer der Arbeiterpartei PT führt nun mit 41%, während der Spitzenkandidat der Liberalen Partei auf 34% kommt. Andere Kandidaten haben wenig Chancen auf die Stichwahl. Auch andere Demoskopen ermittelten zuletzt ähnliche Trends.
Die politische Sprunghaftigkeit des Präsidenten, dessen chaotischer Umgang mit der Corona-Pandemie, die Umwelt-Schäden durch die Aufgabe des Regenwald-Schutzes, die Reduktion der Unterstützungszahlungen für die Armen und die explodierenden Verbraucherpreise infolge des Ukraine-Konflikts hatten Bolsonaros Popularität auf Werte um die 20% sinken lassen, während die Ablehnungsraten deutlich die 50-Prozent-Marke überstiegen.
Doch nun könnte das Rennen noch eng werden, denn Bolsonaros Regierung verteilt jetzt Wahlgeschenke: Am 13. Juli beschloss der Kongress die Ausweitung des Sozialprogramms „Auxilio Brasil“. 20 Millionen Arme bekamen letzte Woche erstmals wieder 600 Real vom Staat, umgerechnet 115 Euro. Die gleiche Monatszahlung bezogen sie auf dem Höhepunkt der Pandemie in 2020, ebenfalls ein Wahljahr. Die Senkung der Mineralölsteuer bewirkte ein deutliches Nachlassen der Transportkosten, was die Gesamtinflation im Juli um 0,68% sinken ließ.
Die Abgeordneten beschlossen zudem staatliche Sondertransfers an Lastwagen- und Taxifahrer, um die gestiegenen Spritkosten auszugleichen. Beide Berufsgruppen gehören zu Bolsonaros Stammwählern. Ältere Bürger sollen künftig den öffentlichen Nahverkehr kostenlos nutzen dürfen und staatliche Gutscheine den Kauf von Gasflaschen günstiger machen. Der Benzinpreis wird höher subventioniert und Stromkosten gesenkt, wofür der Zentralstaat die Provinzen entschädigen will.
Notstand ermöglicht Paket
Weil die Wahlgesetzgebung ausdrücklich staatliche Hilfeleistungen drei Monate vor Wahlen verbietet, behalf sich der Kongress mit dem Ausrufen eines nationalen Notstands wegen der Verteuerung des Öls. Somit ist das Gesetzespaket auch von der seit 2016 in der Verfassung festgeschriebenen Kostendeckelung des regulären Haushalts ausgenommen. Ende August will die Regierung den Haushalt für 2023 in den Kongress einbringen. Die bisher kursierenden Entwürfe, die viele der heutigen Wahlkampfgeschenke fortschreiben wollen, seien bestenfalls als „magischer Realismus“ zu bezeichnen, kommentierte das renommierte Wirtschaftsblatt „Valor“.
Zum formellen Auftakt seines Wahlkampfes in Rio de Janeiro präsentierte sich Jair Bolsonaro Ende Juli mit einem Bekenntnis zu traditionellen Familienwerten und harschen Angriffen auf seinen Hauptkontrahenten Lula. Dieser sei „kein Mann, der das Wohl seines Volkes will“. Er pries auch sein gutes Verhältnis zu Wladimir Putin, was wichtig sei, um die Ernährung der Brasilianer zu sichern. Russland ist bei weitem der wichtigste Düngerlieferant für die Agrar-Großmacht Brasilien. Bolsonaro warb für die Privatisierungen staatlicher Unternehmen und lobte die wichtigsten Pfeiler seiner Machtstruktur: die Agrarindustrie sowie Sicherheits- und Streitkräfte, aus deren Reihen sein Kandidat für die Vizepräsidentschaft stammt, der General im Ruhestand, Walter Souza Braga Netto.
Angriff auf Wahlsystem
Und Bolsonaro wiederholte erneut jene Verdächtigungen, die er seit einem Jahr immer wieder vorbringt: Das elektronische Wahlsystem sei leicht zu manipulieren. Am 18. Juli hatte der Staatschef gar mehr als 70 Botschafter in seine Residenz in Brasilia geladen, um diese Bedenken aller Welt zu unterbreiten.
Nach diesem Event verklagten mehrere Oppositionsparteien den Präsidenten vor dem Obersten Wahlgericht TSE, weil Bolsonaro die staatliche Infrastruktur unrechtmäßig für seine Kampagne und für die Verbreitung von Fake News genutzt habe. Und der Präsident des TSE, Edson Fachin, versicherte erneut die Verlässlichkeit des elektronischen Wahlsystems, das seit den späten 1990er Jahren genutzt wird – und zum Vorbild für viele Entwicklungsländer wurde. Es sei nicht mit dem Internet verbunden und daher keineswegs anfällig für Hackerangriffe. Beim zweiten öffentlichen Testlauf der Geräte, der von Bundespolizei, Staatsanwaltschaft, brasilianischem Anwaltsverband, Kongressmitgliedern, dem Rechnungshof (TCU) sowie Wissenschaftlern und Akademikern begleitet wurde, konnten keine besorgniserregenden Sicherheitslücken ausfindig gemacht werden.
Dass Bolsonaro seine „Warnungen“ ausgerechnet vor dem diplomatischen Corps aussprach, werteten nicht wenige als erneutes Anzeichen dafür, dass auch das Ausland wissen solle, dass eine Wahlniederlage für ihn nicht in Frage komme. Für den Nationalfeiertag am 7. September hat der Präsident seine Anhänger zu einem Aufmarsch vor dem Gebäude des Wahlgerichts in Brasilia aufgerufen. Das dürfte die Nervosität in dem tief gespaltenen Land weiter ansteigen lassen. Nachdem ein Bolsonaro-Anhänger in der südlichen Grenzstadt Foz de Iguaçu einen Lokalpolitiker der PT erschoss, warnten viele vor zunehmender Gewalt in einer Wahlkampagne, die vor allem von Hass und Falschnachrichten geprägt sein wird.
Kenner der brasilianischen Streitkräfte wie der ehemalige Verteidigungsminister Raúl Jungmann versichern, dass Brasiliens Militärs – wie auch ihre US-Kollegen im Januar 2021 – nicht bereitstünden, einen Coup durchzuführen. Aber viele Sicherheitsexperten warnen vor dem großen Heer aus Polizisten, privaten Sicherheitsleuten und militanten Landwirten, das, massiv bewaffnet, Bolsonaro fanatisch folgt. Brasilien drohen gefährliche Zeiten.